Wer war die unsterbliche Geliebte? – Ein Rätsel für die Ewigkeit
Seit knapp anderthalb Jahrhunderten rätseln Historiker, Musikwissenschaftler und Journalisten über den Liebesbrief, den Ludwig van Beethoven an eine ungenannte, von ihm vergötterte Frau schrieb. Eine Reihe Damen aus den gehobenen Wiener Kreisen kommen als Kandidatinnen in Frage.
Von Walter Krumbach
Kurz nach Ludwig van Beethovens Tod am 26. März 1827 besuchte sein Sekretär Anton Schindler die Wohnung des Meisters, um seinen Nachlass zu sichten. Beim Öffnen einer Schublade stieß er auf einen geheimnisvollen Brief. Er war mit Bleistift geschrieben, als Datum hatte Beethoven «Montags am 6ten Juli» angegeben. Jahreszahl und Ortsangabe fehlen. Beethoven ist Feuer und Flamme, er redet die Adressatin mit «Mein Engel, mein alles, mein Ich» an, fragt sich: «Kann unsre Liebe anders bestehn als durch Aufopferungen, durch nicht alles verlangen, kannst du es ändern, dass du nicht ganz mein, ich nicht ganz dein bin.» Er fährt fort: «Die Liebe fordert alles und ganz mit Recht, so ist es mir mit dir, dir mit mir.» Und weiter: «Nur vergisst du so leicht, dass ich für mich und für dich leben muss, wären wir ganz vereinigt, du würdest dieses schmerzliche ebenso wenig als ich empfinden.» Der leidenschaftliche Text endet mit dem Abschiedsgruß «Leb wohl – o liebe mich fort – verkenne nie das treuste Herz deines Geliebten L. Ewig dein ewig mein ewig uns.» Der erstaunte Schindler fragte sich sogleich, warum der Brief sich im Besitz des Meisters befand. Hatte dieser sich etwa nicht getraut, ihn abzusenden oder hatte die Empfängerin ihn zurückgeschickt? Und: Um wen handelte es sich überhaupt? Wer war diese «unsterbliche Geliebte»? Um zu ihrer Identität zu gelangen, musste jedoch zunächst festgestellt werden, wann Beethoven den Brief schrieb. In den Jahren 1801, 1807 und 1812 fiel der 6. Juli auf einen Montag. Die Wasserzeichenuntersuchungen im Jahr 1966 ergaben, dass das letztgenannte Jahr richtig ist. Diese Ergebnisse stimmen übrigens mit Schindlers Vermutung überein. Beethoven hatte sich zwischen dem 1. und dem 4. Juli 1812 in Prag aufgehalten. Am 5. Juli traf er in Teplitz ein, wie es in den dortigen Gäste- und Kurgästelisten registriert ist. Dass Beethoven ein Frauenverehrer war, wusste Schindler allzu gut. Daher kamen als Empfängerin verschiedene Kandidatinnen in Betracht. Die Liste ist relativ lang. Drei unter ihnen sind hierbei die möglichen:
Antonie, die Kunstsammlerin und Philanthropin
Nummer eins ist Antonie Brentano, Kunstsammlerin und Philanthropin. Sie weilte, als Beethoven den Brief schrieb, in Karlsbad, einen Postkutsche-Reisetag von Teplitz entfernt. In Wien hatte sie sich mit Beethoven angefreundet. In ihrem Tagebuch erwähnt sie dieses Verhältnis als eine «Wahlverwandschaft». Der Komponist hatte um die acht Monate Kontakt mit ihr. Dabei war Franz, Brentanos Gatte, meistens anwesend. Dieser Faktor spricht gegen ein intimes Verhältnis der beiden. Aber: Am 11. März schrieb sie ihrer Schwägerin Bettina Brentano, dass Beethoven ihr «einer der liebsten Menschen» sei und sie «beinahe täglich» besuche. In diesem und anderen Schreiben finden sich zudem Hiweise darauf, dass eine Trennung zwischen Antonie und ihrem Mann bevorstand. In Karlsbad erschien Antonie jedoch in Begleitung ihres Gatten. Acht Monate später schenkte sie ihrem Sohn Karl Joseph das Leben. War Beethoven der Vater? Die Autorin Susan Lund hält dies für wahrscheinlich, da Franz später in einem Brief erwähnt, er habe «nur einen Sohn», nämlich Georg.
Anna Marie, die Verehrerin
Beethovens Kandidatin Nummer zwei ist Anna Marie Gräfin von Erdödy, eine ungarische Adlige. Sie hatte sich 1805 von ihrem Mann, dem Grafen Péter von Erdödy, getrennt. Später lebte sie mit ihrem Sekretär Johann Xaver Brauchle zusammen. Marie war eine Verehrerin Beethovens. Sie nahm ihn in ihre Wiener Wohnung auf, in der er zwischen 1808 und 1809 lebte. Ihr Verhältnis war vertraulich, sie führten relativ oft lange Gespräche, in denen sie persönliche Dinge erörterten. Beethoven nannte sie seinen «Beichtvater». Er widmete ihr die beiden Klaviertrios op. 70, die zwei Cellosonaten op. 102 und den Kanon «Glück, Glück zum neuen Jahr» WoO 176. Obwohl beide unter dem gleichen Dach hausten und sich demzufolge oft trafen, ist der Ton von Beethovens damaligen Schreiben an sie nicht der eines verliebten Mannes. Mit dem stürmisch aufbrausenden Stil des Briefes an die «unsterbliche Geliebte» sind sie nicht zu vergleichen.
Josephine, die Klavierschülerin
Nummer drei ist Josephine Brunsvik. Auch sie entstammt einem ungarischen Adelsgeschlecht. Ab 1799 erteilte Beethoven Josephine und ihrer Schwester Therese in Wien Klavierunterricht. Es ist erwiesen, dass Beethoven mit Josephine ein längeres Liebesverhältnis hatte. Am 29. Juli 1799 heiratete sie jedoch den 27 Jahre älteren Grafen Joseph von Deym. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, einen gleichrangigen Mann zu ehelichen, der sie zudem finanziell absichern konnte. Beethovens Besuche wurden durch diese Eheschließung nicht verhindert. Er gab ihr weiterhin Klavierunterricht und komponierte außerdem Werke für eine Spieluhr des Grafen. Trotz des Altersunterschieds führte Josephine mit Deym eine glückliche, obwohl relativ kurze Ehe. Im Januar 1804 starb der Graf in Prag an einer Lungenentzündung. Beethoven besuchte sie nun mit wachsender Häufigkeit, im November jenes Jahres bereits alle zwei Tage. In den fünf darauffolgenden Jahren schrieb Beethoven ihr eine Reihe glühende Liebesbriefe, von denen 14 erhalten sind. Diese Schreiben stimmen in der Leidenschaft des Autors durchaus mit der Ausdrucksweise des Briefs vom Juli 1812 überein. In einem Antwortschreiben aus dem Jahr 1805 kommt Josephine ihrem Freier unmissverständlich entgegen: «Mein Herz haben Sie schon längst, lieber Beethoven, wenn Ihnen diese Versicherung Freude machen kann, so empfangen Sie sie – Aus dem reinsten Herzen.» Ihre engsten Familienmitglieder rieten der Gräfin nun dringend, von einer Heirat mit Beethoven abzusehen, da sie dadurch ihren Adelsstand verlieren würde. Im Herbst 1807 gab sie dem Drängen nach und distanzierte sich entschieden von dem Komponisten. Kurz bevor Ludwig seinen Brief schrieb, weilte Josephine mit großer Wahrscheinlichkeit in Franzensbad, zwei Tagesreisen mit der Postkutsche von Teplitz entfernt. Sie hatte bereits im Februar 1812 die Reise geplant. Für den Fall, dass Beethoven den Brief abgeschickt hatte, traf er möglicherweise ein, als sie Franzensbad bereits verlassen hatte, weshalb das Schreiben als unzustellbar an den Absender zurückgesandt wurde. Josephine, die 1810 in zweiter Ehe Christoph Baron von Stackelberg geheiratet hatte, gebar am 8. April 1813, genau neun Monate nach dem vermeintlichen Treffen mit Beethoven, ihre Tochter Minona. Indes lebte sie zu dem Zeitpunkt nicht mehr mit dem Baron zusammen. Könnte also Minona die Tochter des Komponisten sein? Das Rätsel um Beethovens Liebesbrief lässt viele Fragen offen. Vielleicht wäre es an der Zeit, DNA-Analysen von Karl Joseph Brentano, Minona von Stackelberg und Ludwig van Beethoven anzufertigen. Eine mögliche Vaterschaft des Komponisten wäre ein gewichtiger Schritt, um die Frage zu klären. Freilich würde ein positives Ergebnis der Untersuchungen wie eine Bombe einschlagen: Schon allein sämtliche Beethoven-Biographien wären mit einem Schlage überholt. Aber vorerst ruhen noch alle diese Toten.