Verfassungsgebende Versammlung in Bolivien – Mechanismus in Verfassung machte es möglich
Von Jorge Sandrock
Seit dem Jahr 1826 haben die Bolivianer 16 Mal die Möglichkeit der verfassungsgebenden Versammlung wahrgenommen. Die heutige Verfassung beruht auf der Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung im Jahr 2006.
Nachdem Präsident Sánchez de Losada am 17. Oktober 2003 gestürzt worden war, herrschte in Bolivien eine schwere politische und soziale Krise, die von Forderungen der Bevölkerung nach grundlegender Veränderung geprägt war. In dieser Situation wuchs in der politischen Agenda der Parteien und Bürgerorganisationen die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung heran.
Rechtsgrundlage
Die Möglichkeit der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung war ausdrücklich in den Artikeln 4 und 232 der Verfassung von 2004 vorgesehen.
In Artikel 4 hieß es: «Das Volk berate und regiere durch seine Vertreter und durch die verfassungsgebende Versammlung, die Gesetzesinitiative der Bürger und das Referendum, die durch diese Verfassung geschaffen und gesetzlich geregelt sind.»
In Artikel 232 der Verfassung hieß es: «Die vollständige Reform der Verfassung des Staates ist die ausschließliche Befugnis der verfassungsgebenden Versammlung.»
Der Nationalkongress hat am 4. März 2006 einstimmig das Sondergesetz zur Einberufung verabschiedet, das zwei Tage später von Präsident Evo Morales als Gesetz 3.364 «Sondergesetz zur Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung» verkündet wurde. Dieses Gesetz rief die Bolivianer am 2. Juli desselben Jahres auf, die Delegierten für die Versammlung zu wählen.
Artikel 3 des Gesetzes definierte den Charakter der verfassungsgebenden Versammlung mit der Aussage, dass «sie unabhängig ist und die Souveränität des Volkes ausübt. Sie hängt nicht von den konstituierten Funktionen ab oder ist ihnen unterworfen. Ihr einziger Zweck ist die vollständige Reform der Staatsverfassung.»
Des Weiteren legte das Gesetz in Artikel 24 eine einjährige Frist für die Ausarbeitung der neuen Verfassung fest. Nach Abschluss dieser Arbeit sollte der Text einem Referendum unterzogen werden. Gemäß Artikel 25 des Gesetzes musste der Verfassungstext von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder angenommen werden. Die verfassungsgebende Versammlung begann ihre Sitzungen am 6. August 2006 in der Stadt Sucre.
Keine Einigung zwischen Opposition und Regierungsparteien
Nach ihrer Einrichtung spiegelte die verfassungsgebende Versammlung die tiefe politische Polarisierung und geografische Teilung des Landes wider. Der Konflikt zwischen den Regierungsparteien und Opposition konzentrierte sich auf die Debatte über den ursprünglichen oder abgeleiteten Charakter der Versammlung und das Quorum der Annahme der Artikel der neuen Verfassung. Die Regierungspartei verteidigte den ursprünglichen Charakter, der es ermöglichen würde, das Ziel der Neubildung des bolivianischen Staates zu erreichen. Um dies zu erreichen, erklärten sie, dass die Billigung der Artikel der neuen Verfassung und der Berichte der Kommissionen dem Grundsatz der absoluten Mehrheit unterliegen müsse. Nur die Billigung des Textes der neuen Verfassung als Ganzes würde eine Zweidrittelmehrheit erfordern. Wenn dieses Quorum nicht erreicht wird, sollte der Text direkt einem Referendum zur Entscheidung unterzogen werden.
Die Opposition wies ihrerseits darauf hin, dass die Befugnisse der verfassungsgebenden Versammlung vom Einberufungsgesetz abgeleitet und daher begrenzt seien und die Zweidrittelmehrheit für die Billigung jedes einzelnen Artikels der neuen Verfassung notwendig sei. Sie verteidigten den abgeleiteten Charakter der verfassungsgebenden Versammlung als Gewährleistung der Kontinuität des repräsentativen demokratischen Regimes. Die Debatte um diese beiden Themen lähmte die Arbeit der Versammlung für mehrere Monate.
Der Konflikt um das Quorum der Billigung der Artikel des neuen Textes wurde gelöst, indem dieses auf zwei Drittel der Mitglieder der Versammlung festgelegt wurde. Danach war offensichtlich geworden, dass Vereinbarungen zwischen der Opposition und der Regierungspartei nicht möglich waren. Im August 2007, also ein Jahr nach der Einberufung und nach Ablauf der Frist für die Ausarbeitung des neuen Verfassungstextes, hatten die Versammlungsmitglieder nur wenige Artikel des Verfassungstextes verabschiedet. Es war eine Vereinbarung des Nationalkongresses notwendig, die Frist bis zum 14. Dezember 2007 zu verlängern.
Ausschluss der Opposition
Im November 2007 beschloss die Versammlung, ohne Anwesenheit der Opposition, ihren Umzug in die Stadt Oruro. Die Sitzungen fanden nun auf einem Militärgelände mit nur 145 (Regierungsparteien und ihre Partner) der 255 Mitglieder umfassenden Versammlung statt. Das heißt, die Opposition nahm nicht teil. Gleichzeitig wurden die Sitzungen von schweren zivilen Unruhen und Gewalt begleitet. Am 24. November wurden die Berichte der 21 Kommissionen der Versammlung angenommen. Nach einer kurzen Lektüre des Indexes und der Kapitel der Verfassung, ohne den Text zu präzisieren, billigte die regierungstreue Mehrheit mit 136 Stimmen der 138 von ursprünglich 255 gewählten anwesenden Abgeordneten am 10. Dezember den von Präsident Evo Morales initiierten Verfassungsentwurf.
Die endgültige Verkündung des neuen Verfassungstextes wurde auf zwei Referenden verteilt. Das Erste sollte über eine Gruppe kontroverser Artikel, über die die Delegierten keine Einigung erzielen konnten, und das Zweite über den Text als Ganzes entscheiden. Am 25. Januar 2009 wurde das Referendum abgehalten, um den Text der neuen Verfassung zu ratifizieren. Mit einer Beteiligung von mehr als neunzig Prozent der Wahlberechtigten erreichte die Zustimmung 61,43 Prozent der Stimmen.
Die Verfassung des Staates Bolivien wurde am 9. Februar 2009 verkündet.