Das Verfassungsgericht in Chile – Aufgaben und Kritik
Von Jorge Sandrock

Eine der Institutionen, die in der aktuellen Verfassungsdiskussion am meisten kritisiert wird, ist das Verfassungsgericht. Trotz der Tatsache, dass diese Institution verschiedene Reformen durchlaufen hat, wird ihre Legitimität weiterhin infrage gestellt.
Das Verfassungsgericht wird als «dritte Kammer» bezeichnet, deren Entscheidungen eher politischer als rechtlicher Natur sind. Die Vorschläge zu diesem Verfassungsorgan reichen von der Änderung seiner Zuständigkeiten und der Art und Weise, wie seine Mitglieder ernannt werden, bis hin zur Streichung aus unserem politischen System.
Prinzip der Verfassungsvorherrschaft
Die Verfassung als Grundgesetz des Staates steht hierarchisch über dem gesamten Rechtssystem. Dies bedeutet, dass alle Normen der Verfassung entsprechen müssen. Um diesen Grundsatz zu gewährleisten, gibt es verschiedene Systeme zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsnormen.
Gerichtliche Kontrolle in den Vereinigten Staaten
Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit ist in der Verfassung von Philadelphia (1787) nicht ausdrücklich verankert. Der Oberste Gerichtshof legte 1803 im Fall Marbury vs. Madison den Grundsatz der rechtlichen Normenkontrolle fest, das heißt, die Befugnis aller Richter, über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu entscheiden. Dennoch hat die Entscheidung eines Richters keine Wirkung «erga omnes», sondern nur für den betreffenden Fall. Letztendlich ist es der Oberste Gerichtshof, der die Kriterien vereinheitlicht. In Lateinamerika folgen Brasilien und Argentinien diesem Modell.
Französisches System
In Frankreich kann die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze vom «Conseil Constitutionnel» (Verfassungsrat) überprüft werden. Dieses Gremium besteht aus den ehemaligen Präsidenten der Republik sowie neun Mitgliedern, die jeweils zu einem Drittel von der Exekutive, dem Senat und der Nationalversammlung ernannt werden. Dieses System weist eher einen politischen als einen juristischen Charakter auf.
Von Kelsen inspirierte Verfassungsgerichte
Der österreichische Jurist Hans Kelsen entwickelte das Konzept der Verfassungsgerichte als Garanten für das Prinzip der Verfassungsvorherrschaft. Für ihn besteht die Rolle eines Verfassungsgerichts nicht darin, ein Gesetzgeber zu sein, sondern eine Gerichtsbarkeit. Kelsen erkennt aber an, dass das Gericht bei der Auslegung der Verfassung einen gewissen Ermessensspielraum hat. Für Kelsen ist Rechtssicherheit entscheidend, um das zentralisierte Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit zu unterstützen.
1920 entstanden in Österreich und der Tschechoslowakei die ersten beiden europäischen Verfassungsgerichte. Dieses auf spezialisierte Gerichte konzentrierte Kontrollmodell war in Europa weit verbreitet. Unter anderem wurde es 1947 von Italien, 1949 von Deutschland und 1978 von Spanien eingeführt. In Lateinamerika haben Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Peru Verfassungsgerichte.
Das Verfassungsgericht Chiles
Chile hat eine lange Tradition der Verfassungsgerichtbarkeit, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat. Mitte der 1960er Jahre war die Schaffung der Institution eines Schiedsrichters notwendig, da der zunehmende Konflikt zwischen dem Präsidenten der Republik und dem Kongress offensichtlich war. Daher gab es mehrere Vorschläge zur Stärkung der Befugnisse des Obersten Gerichtshofs oder zur Einrichtung eines dafür vorgesehenen Gerichts. So erzielte der frühere Präsident Frei Montalva schließlich eine politische Einigung über die Gründung eines Verfassungsgerichts. Die wichtigsten Verfassungsstreitigkeiten, die sich aus laufenden Gesetzgebungsverfahren ergaben, sollten von einem unabhängigen Schiedsrichter beigelegt werden. So wurde durch die Verfassungsreform von 1970 die Institution des Verfassungsgerichts in die Verfassung von 1925 aufgenommen.
Die Verfassung von 1980 sah erneut ein Verfassungsgericht mit erweiterten Zuständigkeiten vor. Die Verfassungsreform von 2005 änderte die Form der Mitglieder- ernennung und verlieh ihm neue Befugnisse. Derzeit besteht der Gerichtshof aus zehn Richtern («Ministros»). Sie werden von den drei Staatsgewalten ausgewählt: Drei Mitglieder werden vom Präsidenten der Republik ernannt; drei vom Obersten Gerichtshof, zwei sind vom Senat gewählte Mitglieder und zwei werden von der Abgeordnetenkammer vorgeschlagen und dann vom Senat bestätigt. Sowohl der Senat als auch die Abgeordnetenkammer benötigen derzeit eine Zweidrittelmehrheit bei der Ernennung von Mitgliedern.
In Bezug auf die verfassungsmäßige Kon trolle von Normen führt das Verfassungsgericht eine vorbeugende Kontrolle (ex ante) und eine sanktionierende Kontrolle (ex post) durch. Die vorbeugende Kontrolle wird vor Inkrafttreten einer Rechtsnorm durchgeführt. Die «Leyes Interpretativas» und «Leyes Orgánicas Constitucionales» müssen immer vom Verfassungsgericht überprüft werden und bei der «Control facultativo» dann, wenn der Präsident oder ein Viertel der Kammer weitere Gesetze, Verfassungsreformprojekte und internationale Verträge beantragen.
Die Sanktionskontrolle bezieht sich auf die Befugnis des Verfassungsgerichts, über die Nichtanwendung einer bestehenden Norm in einem Verfahren (inaplicabilidad) oder deren Aufhebung (inconstitucionalidad) zu entscheiden, falls diese gegen die Verfassung verstößt.
Kritik
Die Aufgabe des Verfassungsgerichts in Chile ist es, die Verfassung zu interpretieren und ihre Einhaltung zu garantieren, insbesondere was die Entscheidungen des Nationalkongresses angeht. Diese Rolle löst oftmals Kritik und Zweifel an seiner Legitimität aus, insbesondere wenn seine Beschlüsse politische Auswirkungen haben. Es wird als «dritte Kammer» bezeichnet, auch weil kritisiert wird, dass eher politische als rechtliche Auffassungen eine Rolle spielen.
Außerdem wird der nicht-demokratische Charakter des Gerichts kritisiert. Verfassungsrichter scheinen Gesetze zu schaffen, die auf ihrer Auslegung der Verfassung beruhen, und gesetzliche Normen aufzuheben, ohne vom Volk gewählt worden zu sein.
Dennoch – wie bereits oben beschrieben – findet die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit ihre Legitimität in der Aufgabe des Verfassungsgerichts, die Einhaltung der Verfassung zu gewährleisten. Ihre Kontrollbefugnis garantiert, dass Grenzen nicht überschritten und Machtmissbrauch vermieden wird, sodass der souveräne Wille der Verfassung eingehalten wird. Dies bedeutet, dass diese Gerichte die Grundrechte vor parlamentarischen Mehrheiten schützen sollen. In diesem Szenario erlangt das Verfassungsgericht seine demokratische Legitimität, indem es als Garant für den Grundsatz der «check and balance» und für die Einhaltung der Grundrechte fungiert und damit wesentliche Grundsätze eines verfassungsmäßigen und demokratischen Rechtsstaats eingehalten werden.
Reformen
Obwohl es politische Gruppierungen gibt, die das Verfassungsgericht als Institution abschaffen wollen, schlägt die Mehrheitsmeinung vor, es beizubehalten und dafür seine Zuständigkeit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit zu ändern. In dieser Hinsicht besteht Konsens darüber, dass die bisher obligatorische vorbeugende Kontrolle von Gesetzen abgeschafft werden soll. Gleichzeitig wird vorgeschlagen, die fakultative vorbeugende Kontrolle von Gesetzen durchzuführen, sobald die gesetzgeberische Bearbeitung des Projekts abgeschlossen ist. Es besteht auch Konsens darüber, die Form der Mitgliederernennung zu ändern, damit das Verfassungsgericht besser seiner eigentlichen Aufgabe nachgehen kann.