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viernes, 20. septiembre 2024
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Die vielfältigen Wege der lateinamerikanischen Länder

Von Jorge Sandrock

Das Oberste Verfassungsgericht befindet sich im Palacio de Justicia an der Plaza de Bolívar in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá.

Viele lateinamerikanische Länder haben in den letzten Jahren den Weg der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung gewählt, um ihre Verfassungen zu ersetzen. Ein gemeinsamer Nenner besteht in den tiefgreifenden politischen und sozialen Krisen, die der Einberufung der verfassungsgebenden Versammlungen stets vorausgegangen waren.

Es ist außerdem typisch für Lateinamerika anzunehmen, dass Probleme durch den Erlass von Rechtsnormen gelöst werden, anstatt den Fehler in der mangelhaften praktischen Umsetzung von Rechtsnormen zu erkennen.

Die Wege, die die lateinamerikanischen Länder im Rahmen der Durchführung der verfassungsgebenden Versammlung eingeschlagen haben, sind unterschiedlich. Man kann beobachten, dass in einigen Fällen lediglich die von der gegenwärtigen Verfassung vorgesehenen Befugnisse rechtmäßig ausgeübt wurden (Bolivien). In anderen Fällen waren die verfassungsgebenden Versammlungen das Ergebnis weitreichender politischer Vereinbarungen (Kolumbien) oder der Entscheidung des Obersten Gerichts (Venezuela), das den Aufruf genehmigte. Schließlich gab es Fälle von offenem Rechtsbruch und Konflikten zwischen den Staatsorganen (Ecuador) sowie Verfassungsänderungen durch Schaffung von De-facto-Verhältnissen.

Auch die Resultate fielen sehr unterschiedlich aus. Einigen Ländern ist es gelungen, institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein angemessenes und nützliches Instrument für die politische und institutionelle Stabilität mit den sich daraus ergebenden Auswirkungen der sozialen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung zu etablieren. Der Mechanismus der verfassungsgebenden Versammlung wurde jedoch auch durch neue Formen des Populismus in Lateinamerika instrumentalisiert. Das Ergebnis dieser «staatlichen Neugründungen» war die Schwächung der Institutionen und der Rechtsstaatlichkeit sowie die massive Beeinträchtigung der Grundrechte.

Der Zweck der kommenden Artikel besteht darin, einen kurzen Überblick über den Hintergrund, die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie die Entwicklung der verfassungsgebenden Prozesse in vier Ländern der Region zu geben. Diese vier Erfahrungen sind einerseits repräsentativ für verschiedene Wege der Verfassungsgebung in Lateinamerika und andererseits spiegeln sie die großen Unterschiede der Ergebnisse von verfassungsgebenden Versammlungen im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wider.

Die verfassungsgebende Versammlung Kolumbiens

Ab den 1980er Jahren geriet Kolumbien in eine tiefe soziale und politische Krise, die durch hohe Armutsraten, Gewalt, das Erstarken von bewaffneten Akteuren und dem Drogenhandel ausgelöst wurde. Die organisierte Kriminalität der Drogenkartelle übte in weiten Regionen Kolumbiens faktisch die Kontrolle aus, was eine massive Verletzung von Menschenrechten und Korruption in öffentlichen Institutionen zur Folge hatte.

Während seiner Amtszeit schlug Präsident Virgilio Barco (1986-1990) einen Prozess einer grundlegenden Reform der Verfassung von 1886 vor. Obwohl die alte Verfassung während der langen Zeit ihres Bestehens mehreren Teilreformen unterzogen worden war, sprach sich Barco für die Idee einer tiefgreifenden Reform aus, die als Grundlage für ein neues politisches System im Land dienen sollte. Obwohl die Verfassung von 1886 keine Möglichkeit der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung als einen Mechanismus der Verfassungsänderung vorsah, wurde der Vorschlag des Präsidenten von den wichtigsten politischen Kräften, den Bürgern und dem Obersten Gericht begrüßt.

Ergebnis einer weitreichenden politischen Vereinbarung

Die Suche nach Konsens unter den politischen Akteuren wurde auch von den Bürgern stark vorangetrieben. Anlässlich der Wahlen vom 11. März 1990 organisierte eine Studentenbewegung unter dem Titel «Wir können Kolumbien noch retten» einen Aufruf zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. Die Initiative «Siebter Wahlzettel» sprach sich für eine informelle Abstimmung aus, bei der die Bürger über das Abhalten einer verfassungsgebenden Versammlung abstimmen sollten. Zuvor hatte die nationale Wahlkommission angegeben, dass sie die Stimmen zwar nicht zählen könne, aber dass sie auch nichts gegen eine Abstimmung unternehmen würde, wenn es sich lediglich um eine unverbindliche informelle Abstimmung handeln würde. Auf diese Weise demonstrierten rund zwei Millionen Kolumbianer für die Forderung der Einberufung einer Nationalversammlung und schafften dadurch ein politisches Signal, das jedoch keine rechtliche Bindungswirkung entfaltete.

Die breite Unterstützung, die die Bürgerinitiative anzog, motivierte Präsident Barco unter Ausrufung des Ausnahmezustandes, das Dekret 927/90 zu erlassen. Das Präsidialdekret stellt fest, dass die «Vereitelung der Volksbewegung zugunsten des institutionellen Wandels die Institutionen schwächen würde», bestätigt die informelle Abstimmung im März und fordert eine zweite bindende Volksabstimmung im Rahmen der Präsidentschaftswahlen vom Mai 1990.

In seinem Urteil vom 24. Mai 1990 hat der Oberste Gerichtshof den Weg für eine Abstimmung geebnet, indem er das Dekret 927/90 für verfassungsgemäß erklärt hat, da es die Willensäußerung des Souveräns, also des Volkes, fördere. Der Gerichtshof sprach sich des Weiteren für institutionelle Reformen aus, die als Grundlage für das Dekret angeführt wurden. Dieses bestätigte, dass die Institutionen ihre Wirksamkeit verloren hatten, um den Problemen des Verlusts der öffentlichen Ordnung entgegenzuwirken, was somit eine Reform der Verfassung notwendig machte. 

Bei dieser zweiten Abstimmung im Rahmen der Präsidentschaftswahl sprachen sich 88,89 Prozent der Wähler für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung aus. Nach der Abstimmung begannen die Verhandlungen zwischen den vier wichtigsten politischen Kräften über den thematischen Rahmen und das Verfahren der Versammlung. Ergebnis der Vereinbarung war das Dekret 1926/90, das die politischen Vereinbarungen und das Datum der Wahl der Delegierten der verfassungsgebenden Versammlung enthielt.

Die Nation als die verfassungsgebende Gewalt

Der Oberste Gerichtshof hat diesen letzten Erlass in einem historischen Urteilsspruch bestätigt. In seinem Urteil erkennt der Gerichtshof die völlige Freiheit bei der Festlegung der Tagesordnung an und stellt sicher, dass die Delegierten der verfassungsgebenden Versammlung sich absolut frei äußern können:

«Da die Nation die verfassungsgebende Gewalt ist und einen souveränen Charakter hat, von dem die anderen Gewalten abgeleitet werden, kann sie keine anderen Grenzen haben als die, die sie sich selbst auferlegt, noch können die konstituierten Funktionen ihre Handlungen überprüfen.»

So sollte die partizipative Demokratie maximiert und die finanziellen Garantien beseitigt werden, die das Dekret des Präsidenten als Voraussetzung für die Teilnahme an der Wahl der Mitglieder der Versammlung vorsah. Unter diesen Voraussetzungen gingen die Kolumbianer am 9. Dezember 1990 zu den Wahlen, um die 70 Delegierten der verfassungsgebenden Versammlung zu wählen. Die Versammlungsmitglieder begannen die Sitzungen am 5. Februar 1991 und der neue Verfassungstext wurde am 4. Juli desselben Jahres verkündet.

Eine neue Verfassung für Chile ist auf dem Weg – dafür stimmte eine überwältigende Mehrheit von 78,27 Prozent der Wähler am 25. Oktober 2020. Eine Cóndor-Serie soll zur seitdem angestoßenen Debatte mit weiteren Aspekten und Erfahrungen anderer Länder hinsichtlich einer neuen Verfassung beitragen.

Verfassungsrechtler und Dozent der Universidad Adolfo Ibañez Jorge Sandrock, der in Heidelberg Staatsrecht studierte, wird in den folgenden Cóndor-Ausgaben einige Themen hinsichtlich der chilenischen Verfassung vorstellen: Einfluss des deutschen Grundgesetzes, die Geschichte und Entwicklung der Verfassung Chiles, Präsidentialismus, Semiparlamentarismus und Parlamentarismus, Zentralstaat versus Föderalismus, Sozialrechte sowie die Rolle des Verfassungsgerichts. 

Die Serie startet mit dem Thema der Verfassungsgebenden Versammlung, über deren Mitglieder die Wähler am 11. April entscheiden werden: Welche Wege wählten Kolumbien, Venezuela, Bolivien und Ecuador, um eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen und ihre Verfassungen zu reformieren oder neu auszuarbeiten?

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