Wo alle Angst vor einem haben
In dem lateinamerikanischen Klassiker «El señor Presidente» schildert Literaturnobelpreisträger Miguel Ángel Asturias die Mechanismen und Auswirkungen von Diktaturen.
Von Arne Dettmann
Wütende Generäle, die mit Panzern und Soldaten eisern das eigene Volk unterjochen; und selbstherrliche Autokraten, die ihr Land ausbluten lassen, während sie selbst in Saus und Braus leben: Solche Schreckensherrschaften gehören offenbar immer mehr der Vergangenheit an. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls das Center for Systemic Peace in den USA.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hätte es demnach weltweit 225 bewaffnete Staatsputsche gegeben und immerhin 328 weitere, die allerdings fehlschlugen. Am meisten wurden die Regierungsmauern in den 60er bis 80er Jahren gestürmt, seitdem ist ein Rückgang zu verzeichnen. Die Globalisierung sowie die Unterstützung demokratischer Strukturen durch die USA, die EU und den Vereinten Nationen würde es machtlüsternen Tyrannen zunehmend schwerer machen, die Macht an sich zu reißen.
Staatliche Willkür und Gewalt
Was allerdings passiert, wenn sich ein Diktator erst einmal eingenistet hat, beschrieb der Schriftsteller Miguel Ángel Asturias (1899–1974) schon vor fast 100 Jahren am Beispiel seiner Heimat Guatemala. Staatliche Willkür und Gewalt, Entrechtung der Bürger sowie Bespitzelung in einer beklemmenden Atmosphäre, wo sich alle vor einem fürchten und einer vor allen, prägen das Bild in dem Klassiker «El señor Presidente» (deutscher Titel: «Der Herr Präsident»).
Und dass Asturias sein Werk bereits 1920 begann, aber aufgrund der strikten Zensur in Guatemala erst 1946 in Mexiko veröffentlichte, ist ein weiteres Merkmal von autokratischen Herrschaften: die Abschaffung der Pressefreiheit.
Als Vorbild für seinen unberechenbaren Despoten im Buch taugte Manuel Estrada Cabrera, der von 1898 bis 1920 Guatemala regierte. Wahlfälschung, Ausschaltung der Opposition – darunter auch Exekutionen – sowie Folter im Gefängnis ermöglichten seinen Machterhalt. Auch der Protagonist in Asturias Werk bekommt die Willkür des Präsidenten, der nie mit Namen genannt wird und somit als Muster für andere Diktatoren herhalten kann, zu spüren: Zunächst noch der Günstling des Präsidenten, endet er schließlich als anonymer Gefangener in Zelle 17 und stirbt an den unmenschlichen Bedingungen seiner Haft.
Caudillos und Diktatoren in Lateinamerika
Mit «El señor Presidente» schuf Asturias in Lateinamerika nicht nur das neue Genre der sogenannten Diktatorenromans, der sich speziell mit den Mechanismen des Caudillismo und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft beschäftigt. Der Autor gehört auch zu den ersten, die die Stilmittel des Magischen Realismus anwendeten. Traumbilder verschwimmen mit der Wirklichkeit, Gedanken und Geräusche werden laut ausgeschrieben, Textgattungen wechseln sich abrupt ab – die Entfremdung des Menschen in einer Diktatur wird dem Leser auch gefühlsmäßig über die Buchstaben vermittelt. Für seinen virtuosen Einsatz von Sprache erhielt Asturias 1967 den Nobelpreis in Literatur.
Trotz des schriftstellerisch hohen Niveaus beschreibt Asturias das Grauen oftmals ohne Umschweife. Ein Bettler wird beim Verhör zu Tode gefoltert, einer gefangen genommenen Mutter stirbt das Baby, nachdem die Soldaten ihre Brüste mit Kalk beschmiert haben, so dass der Säugling nicht mehr die Brust nimmt. Verzweiflung macht sich bis zur letzten Zeile breit. Ist eine solche plastische Anklage vielleicht übertrieben?
Wohl kaum. Zwei Jahrzehnte lang – von 1965 bis 1985 – dominierten Militärdiktaturen Lateinamerika. Fast alle Länder der Region wurden autoritär regiert. Und so kann der Leser am Ende der Lektüre zur Erkenntnis gelangen, dass die heutigen Demokratien – mögen sie auch noch so langsam arbeiten und mit vielen Mängeln behaftet seien – doch immer noch einem Staatsterrorismus vorzuziehen sind.