Von Michael Bier
Wien – die lebenswerteste Stadt auf der Welt: Die österreichische Hauptstadt führt 2024 zum dritten Mal hintereinander das Global Liveability Ranking der Metropolen an. Ein Grund ist, dass Wien mit einem Anteil von 28 Prozent an öffentlichem Eigentum die Stadt mit der höchsten Dichte an kommunalem Wohnungsbau weltweit ist. Im Jahr 1923 war mit dem Wiener Gemeindebau begonnen worden. Dieser Prozess startete mit der Förderung zur Bereitstellung angemessenen Wohnraums, der im Wesentlichen bis heute, mit dem Bau von 235.000 Häusern, andauert, in denen derzeit rund 500.000 Menschen, also fast ein Drittel der Stadtbevölkerung, leben.
Der historische Kontext
Zwischen 1840 und dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 wuchs die Bevölkerung Wiens von 440.000 auf über zwei Millionen. Vor dem Krieg lebten in den Arbeitervierteln durchschnittlich sechs Personen in einer Wohnung von circa 35 Quadratmeter. Seit 1910 kam es zu mehreren Mieterrevolten, doch die Gemeindeverwaltung weigerte sich, mit dem Bau von öffentlichen Wohnungen zu beginnen. Lediglich einige städtische Unternehmen, etwa die Straßenbahnverwaltung, begannen mit dem Bau für eigene Mitarbeiter. Doch mit Beginn des Ersten Weltkriegs endeten alle diese Initiativen.
Der Nachkriegszerfall zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte Wien in eine schwere soziale und identitäre Krise. Die interne Einwanderung aus den ehemaligen Ländern der Monarchie und die Zerstörung eines Teils der Stadt während des Krieges führten zu einem noch nie dagewesenen Wohnungsdefizit.
Die sozialistische Regierung
Mit der Wahl einer sozialistischen Regierung in der Stadt Wien im Jahr 1919 legte die neue Verwaltung sofort einen Schwerpunkt auf die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. Das Modell wurde größtenteils von Stadtrat Hugo Breitner entwickelt.
Der Bankdirektor und spätere Superintendent trat 1919 von allen seinen Funktionen zurück, um die kommunale Verwaltung als Verantwortlicher für Finanzen mit besonderem Schwerpunkt auf der Entwicklung des kommunalen Wohnungsbaus zu integrieren. Er verhinderte die Zahlungsfähigkeit Wiens, das nach dem Ersten Weltkrieg völlig bankrott war, und meisterte sogar die Finanzkrise von 1928 positiv. Hugo Breitner führte eine Steuer für hochwertige Immobilien ein, mit starker Progression, Steuern für Hausangestellte und sogar für Partys. Mit diesen Einnahmen wurde ein Fond gegründet, der «Wiener Wohnbaufonds», der den Grundstückserwerb und die Errichtung von Gebäuden ermöglichte. Die Regelungen zum «Wohnbaufonds» haben sich geändert, das Modell bleibt jedoch bis heute nahezu unverändert bestehen.
Der Gemeindebau des Roten Wien
Grundlage der Idee des sozialen Wohnens ist es, Miete und Grundstückspreise nicht ausschließlich dem freien Markt zu überlassen. Gemäß der Satzung von «Wiener Wohnen», der für den Bau und die Verwaltung des öffentlichen Wohnungsbaus zuständigen Organisation, ist ihr Ziel und Zweck, die Schaffung und Bereitstellung von modernen und qualitativ hochwertigen Mietwohnungen für ein sozial schwächeres Segment der Bevölkerung. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Unabhängigkeit der Frau, ihre Emanzipation durch die Einbindung von Kindergärten, halbindustriellen Wäschereien und Gesundheitsstationen.
Das Modell:
• Kontinuierliche Akquisition großer städtischer Gebiete und deren Reservierung für den Bau großer Wohnblöcke
• Bau großer Wohnkomplexe mit Einbeziehung von Außenflächen (städtebauliche Funktion)
• Vermietung und Verwaltung durch die Gemeinde
Früher hat die Gemeinde diese Grundstücke direkt erworben, heute ist der öffentliche Bau, teilweise aufgrund von Vorschriften der Europäischen Gemeinschaft, stark eingeschränkt. Der Beitrag der Stadt beschränkt sich derzeit auf die Bereitstellung und Übertragung verfügbarer Grundstücke an Wohnbaugenossenschaften. Diese großflächigen Grundstücke werden zu einem sehr geringen Preis erworben, in der Regel öffentliche Grundstücke wie alte Bahnanlagen, Militärkasernen und so weiter, werden unterteilt und an Wohnungsbaugenossenschaften weitergegeben.
Qualität war von Anfang an ein zentrales Thema des Programms. Einige der historischen Gebäude sind heute aufgrund ihres architektonischen Ausdrucks und ihrer Repräsentativität für eine gesellschaftliche Situation und der entsprechenden öffentlichen Resonanz kulturelles Erbe der Stadt.
Diese Qualität bezieht sich auf architektonische Gestaltung, Ausdruck einer besseren Zukunft, Kapazität der öffentlichen Verwaltung, Sorge um die Bewohner, Effizienz bei Gestaltung und Bau.
Ein weiterer Aspekt der Qualität ist die Lage: Insbesondere bei den älteren Projekten wurden die für den Bau von Gemeindebauten erworbenen Grundstücke über die gesamte Stadt verteilt, ohne Bevorzugung von Preis, Lage oder Anschaffungskosten. Dies verhinderte von Anfang an die Bildung von Ghettos oder die Konzentration eines bestimmten Teils der Bevölkerung.
Vorteile des Gemeindebau-Modells
Der erste Vorteil ist eindeutig die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum für einen großen Teil der städtischen Bevölkerung. Doch es gibt noch einige weitere Vorteile: Aufgrund der Vielzahl an Interventionen sind mehr als ein Viertel aller Wohnungen in Wien öffentlich, es besteht eine Kontrolle über den Grundstücks- und Mietmarkt. Die britische Zeitschrift Economist hat daher auch dieses Jahr wieder im jährlich erscheinenden Global Liveability Ranking-Index Wien zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt, was auch auf die niedrigen Wohnkosten zurückzuführen ist. Insgesamt umfasst das Ranking 173 Städte.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Fähigkeit, die Stadt durch diese massiven Eingriffe zu gestalten. Die Gebäude haben nicht nur eine unbestreitbar architektonische Qualität – aber noch wichtiger für die Stadt ist die Behandlung der angrenzenden öffentlichen Räume, die Gestaltung von Parks, Plätzen, verkehrsberuhigten Flächen und allgemein die Stadtplanung durch groß angelegte Eingriffe.
Sozialer Wohnungsbau in öffentlichem Eigentum ermöglicht eine ständige Kontrolle und Anpassung der Preise, die Auswahl der Begünstigten sowie die Möglichkeit der Erneuerung und Anpassung an sich ändernde Anforderungen, um weiterhin ein bedarfsgerechtes Qualitätsprodukt anzubieten. Und nicht zuletzt verfügt Wien heute über ein bauliches Erbe von rund 50.000 Millionen Euro, was die Gemeindeverwaltung praktisch immun gegen jede Wirtschaftskrise macht.
Dieser ganze Prozess begann vor 1923, erdacht von dem Ökonomen Hugo Breitner, der seine Karriere als Banker aufgab, um als städtischer Angestellter ein Modell des öffentlichen Wohnungsbaus zu entwickeln, von dem Millionen von Menschen ein ganzes Jahrhundert lang profitierten und das bis heute vollkommen aktuell und anwendbar ist.