Sechs Millionen Brasilianer haben deutsche Vorfahren
Vor 200 Jahren kamen die ersten Deutschen in Brasilien an. Ähnlich wie in Chile suchte die Regierung vor allem für den Süden des Landes nach neuen Siedlern.
São Leopoldo (dpa) – Hand in Hand stehen sie im Kreis und halten verschiedene Werkzeuge wie etwa einen Schraubenschlüssel in die Luft. Die menschlichen Figuren dieses neu errichteten Monuments sollen die Einwanderer symbolisieren, die am Aufbau der Stadt São Leopoldo im Süden Brasiliens mitgewirkt haben. Zu diesen gehören auch die Deutschen: Die Stadt ist bekannt als «Wiege der deutschen Einwanderung in Brasilien» – die ersten von ihnen kamen hier vor genau 200 Jahren an.
Mehrere Tausend Menschen wanderten damals auf der Suche nach einem besseren Leben nach Brasilien aus. Die Neuankömmlinge sollten in den südlichen Regionen eine Infrastruktur aufbauen.
Zu diesem Jubiläum war in São Leopoldo im südlichsten brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul eigentlich ein großes Einwanderungsfest stattfinden – es wurde aber abgesagt. Die verheerenden Überschwemmungen, die vor fast drei Monaten mindestens 182 Menschen das Leben gekostet hatten, machten es unmöglich. Zahlreiche kleinere Veranstaltungen finden dennoch in mehreren Städten Brasiliens statt.
Gesangs-, Schützen- und Turnvereine – und das Oktoberfest
Angefangen hatte es mit 300.000 bis 400.000 Deutschsprachigen, die in den verschiedenen Einwanderungswellen nach Brasilien kamen, wie der Historiker und emeritierte Universitätsprofessor Martin Dreher erzählt. Der Brasilianer hat selbst deutsche Wurzeln. Deutschsprachig bezieht sich darauf, dass die Menschen nicht nur aus dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik kamen, sondern unter ihnen beispielsweise auch Deutschrussen waren oder sie aus Österreich-Ungarn kamen.
Heute haben schätzungsweise sechs Millionen Brasilianer deutsche Vorfahren, wie die Generalkonsulin in São Paulo, Martina Hackelberg, sagt. Das sind knapp drei Prozent der Bevölkerung.
Die Einwanderer gründeten Gesangs-, Schützen- und Turnvereine. In diesem Jahr feiert das zweitgrößte Oktoberfest der Welt in Blumenau, im südlichen Bundesstaat Santa Catarina, 40-jähriges Jubiläum. Menschen kommen in Tracht und Dirndl, es gibt Spezialitäten wie Spätzle, Brezel, gefüllte Ofenkartoffeln, Bratwurst und natürlich das Münchner Bier – es ist fast wie auf der Theresienwiese, nur auf Portugiesisch. Es wundert
dementsprechend auch nicht, dass fast alle der ersten Brauereien Brasiliens deutschen Ursprungs waren und im 19. Jahrhundert entstanden. Das gibt das Institut Martius-Staden bekannt, das den kulturellen Austausch beider Länder fördert.
«Hunsrückisch», Westfälisch und Pommersch
Brasilien ist nach Angaben der deutschen Botschaft heute das Land mit den meisten Deutschsprachigen außerhalb Europas. Ein bis zwei Millionen Brasilianer sprechen nach Einschätzung des Martius-Staden-Instituts Hochdeutsch und seine Dialekte. «In meiner Gemeinde, wo ich herkomme, kann man noch viele Menschen treffen, die Hunsrückisch sprechen», erzählt Gerson Neumann, Universitätsprofessor an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul und Nachkomme deutscher Einwanderer.
Er kommt aus einem kleinen Ort im Landesinneren, etwa 100 Kilometer von Porto Alegre, Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul. In direkter Umgebung würden noch viele Westfälisch sprechen. In Städten wie Pomerode im Bundesstaat Santa Catarina oder in Orten des Bundesstaates Espirito Santo nahe Rio de Janeiro werde Pommersch gesprochen.
Einflüsse aus dem Portugiesischen haben die deutschen Dialekte jedoch geprägt und umgekehrt. Ein Beispiel: Zum Nachtisch isst man gerne «Cuca», eine Neubildung des deutschen Wortes «Kuchen», und ergänzt sein Brot mit «Schmier», einem hunsrückischen Ausdruck für Fruchtkonfitüre, erzählt Neumann.
Heute gibt es in Brasilien laut dem Martius-Staden-Institut rund 350 öffentliche und staatliche Schulen sowie rund 60 Universitäten, die Deutschunterricht anbieten.
Deutsche führten Kindergarten ein
Ob Novo Hamburgo, Nova Friburgo, São Leopoldo oder Pomerode: Die Deutschen haben ihre Spuren natürlich auch bei den Städtenamen hinterlassen. Pomerode wurde von pommerschen Siedlern gegründet und bezeichnet sich selbst aufgrund der größtenteils deutschstämmigen Bevölkerung als «deutscheste Stadt Brasiliens».
Wo sie sich niederließen, habe es praktisch keinen Analphabetismus mehr gegeben, erklärt Dreher. «Die Deutschen waren auch die Ersten, die in Brasilien das Kindergartenwesen eingeführt haben», sagt der Historiker weiter. «Und in Rio Grande do Sul kann man sich das Gesundheitswesen nicht ohne die Krankenhäuser vorstellen, die von den Deutschen gegründet worden sind.»
Brasiliens wohl berühmtester Architekt Oscar Niemeyer hat einen deutschen Namen aufgrund seiner deutschen Wurzeln. Ob in Rio de Janeiro, New York oder Berlin – überall begegnet man seinen Bauwerken. Sein wohl bekanntestes Projekt ist Brasiliens Planhauptstadt Brasília, die in unter vier Jahren errichtet und von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde.
São Paulo – größter deutscher Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands
Brasilien ist wichtigster Handelspartner Deutschlands in Südamerika und der einzige strategische Partner Deutschlands in Lateinamerika und der Karibik. Damit soll die Zusammenarbeit zu bi- und multilateralen Themen weiter ausgebaut werden.
Große deutsche Unternehmen haben sich bereits in den 1950er Jahren angesiedelt und so zum Aufbau der brasilianischenIndustrie beigetragen. Rund 1.300 deutsche Unternehmen haben nach Angaben der Industrie- und Handelskammer (IHK) heute ihren Sitz in Brasilien, vor allem im Großraum São Paulo, als größter deutscher Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands.
2022 lagen die Einfuhren nach Brasilien aus Deutschland bei über 12,89 Milliarden Euro. Es handelt sich vor allem um Maschinen, Fahrzeuge und Kfz-Teile sowie chemische und pharmazeutische Erzeugnisse. Nach Deutschland importiert wurden im selben Jahr Waren im Wert von 9,17 Milliarden Euro. Darunter hauptsächlich mineralische und pflanzliche Produkte sowie Lebensmittel, Getränke und Tabak.