Ein heimatliches Sturmtief, ein toter Koch und eine handfeste Meuterei

Die Jungfernfahrt der «Priwall» war in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Ihr Kapitän Jürgen Jürs hatte die erste Reise der Hamburger Viermastbark nach Südamerika aufgezeichnet. Der Cóndor berichtete am 6. November über das Schicksal des Schiffes, das 1941 in chilenische Hände überging und «Lautaro» genannt wurde.
Am Tag, als die Hamburger Viermastbark «Priwall» ihre Jungfernfahrt beginnen soll, zieht über Norwegen ein Tief Richtung Elbe. So fällt an besagtem 24. Juli 1920 ungewöhnlich viel Regen auf Hamburg. Am Spätnachmittag wird die «Priwall» vom Dampfer «Roland» elbabwärts gezogen und geht zunächst in Cuxhaven vor Anker – sechs Tage lang. Die 33 Segel, die auf den vier Masten hängen, liegen schon gleich im ersten Sturm und haben das offene Meer noch nicht einmal erreicht. Das aus Stahl genietete Segelschiff, gut ausgerüstet für die lange Fahrt nach Südamerika, wartet unter dem Kommando von Kapitän Jürgen Jürs auf «Leinen los». Keiner sieht voraus, welch ungewöhnliche Reise bevorsteht.
Jungfernfahrt mit 200 Mann zu viel im Gepäck
Die «Priwall» trägt bei ihrer ersten Fahrt 234 Mann an Bord – 200 mehr als nötig. Der Frachtsegler der Reederei F. Laeisz nimmt damit seinen Dienst sogleich zweckentfremdet als Passagierschiff auf. Das hat gute Gründe. Nach dem Ersten Weltkrieg liegen an der Westküste Südamerikas 57 deutsche Schiffe vor Anker. Als Kriegsbeute beschlagnahmt, sollen sie zur Übergabe an die Siegermächte nach Europa zurückgefahren werden. Es fehlt jedoch Besatzung, und so werden 800 deutsche Seeleute für die Rückholung der Schiffe nach Südamerika gebracht, unter anderem besagte 200 Mann auf der «Priwall».

Die beteiligten Reeder haben zum Zweck des Transportes der Ersatzmannschaften, der Wiederherstellung der Fahrtüchtigkeit und der Beladung der Schiffe, die «Deutsche Segelschiff-Kontor GmbH» gegründet. Die Siegermächte gestatten den Reedern, auf der Heimreise Ladung auf eigene Rechnung an Bord zu nehmen. Das ist so einträglich, dass die Reederei F. Laeisz, die beschlagnahmten Schiffe hinterher zurückkaufen kann.
Man stelle sich nun vor: Zwei Hundertschaften von Seeleuten in provisorisch eingerichteten Kojen, kaum belüftet, ohne Elektrizität, Tag und Nacht auf engstem Raum. Raum, der für deutlich weniger Männer vorgesehen ist. Hinzu kommt, dass selbstverständlich deutlich mehr Proviant notwendig wird, um die Besatzung während der langen Fahrt zu versorgen.
Als sich der Seegang auf der Nordsee schließlich beruhigt, schleppt die «Roland» den Segler von Cuxhaven Richtung Ärmelkanal. Kapitän Jürs hält in der Akte vom 8. August den ersten Verlust fest: Der Koch Ibsen stirbt infolge eines Herzschlags. Schon während der darauf folgenden Tage notiert er im Schiffstagebuch außerdem aufgebrochene Ladungskisten und Diebstahl sowie Arbeitsverweigerung der Transportmannschaften. Bereits Ende August ist das der Beginn einer Meuterei – wobei die Männer, die sie anzetteln nicht zur Besatzung, sondern zu den Passagieren zählen, die nur hin und wieder mit anpacken.
In Folge werden Verluste in den Trinkwassertanks bemerkt, mehrere Feuer brechen aus. Jürs berichtet: «Bei leichten Winden aus verschiedenen Richtungen lief die «Priwall» bis 25 Grad Süd und 30 Grad West. Dort eskalierte die Situation. Die Leute wurden aufsässig.» Einer Beschwerde über zu wenig Essen folgt schließlich die Forderung der Aufständischen, die Verfügungsmacht über den Proviant zu erhalten. Die eigentliche Mannschaft ist in der Unterzahl, sie kann nicht viel dagegen halten.
Zwischenstopp Montevideo
In dieser ernsten Lage beschließt der Kapitän Montevideo als Nothafen anzulaufen. Vom 24. September bis 10. Oktober liegt das Schiff dort auf Reede. Ein von den Ersatzmannschaften gegründeter Bordrat zieht in Montevideo das Deutsche Konsulat hinzu und fordert für die Reise um Kap Hoorn eine Telegrafenstation, Belüftungsgitter und Öfen im Zwischendeck. Unrealistische Forderungen, die schließlich nicht erfüllt werden. Man gestattet den Seeleuten regulär abzumustern. Bei Antritt der Weiterreise am 12. Oktober nach Valparaíso sind deshalb nur noch 146 Mann an Bord. Mit gutem Wetter und wechselndem Wind kommt die «Priwall» bis 52 Grad Süd und 65 Grad West, wo der Wind auffrischt und stürmisch wird. Am 21. Oktober umsegelt sie die Isla de los Estados im äußersten Südosten Argentiniens. Das Schiff arbeitet schwer in hoher See. In der Region steigen die Wellenhöhen bei Sturm auf 15 bis 20 Meter. Die Wetterstation Ushuaia meldet Tiefsttemperaturen von zwei bis fünf Grad. Eine Herausforderung für die Besatzung. Am 31. Oktober überschreitet die «Priwall» westlich von Kap Hoorn 50 Grad Süd und erreicht schließlich ohne weitere besondere Vorkommnisse am
12. November Valparaíso. Vor dem Deutschen Generalkonsulat macht Kapitän Jürgen Jürs seine «Verklarung» – eine eidesstattliche Erklärung – in der er den Umfang des eingetretenen Schadens an der transportierten Ladung angibt und den Diebstahl von Proviant und Trinkwasser sowie die Schwierigkeiten mit der Transportmannschaft belegt. Kapitän Jürgen Jürs kommandiert die «Priwall» am 22. April 1921 wieder sicher nach Hamburg zurück.
Ein Kapitän, der mit allen Wassern gewaschen ist
66 Mal segelt er um Kap Hoorn, 50 Mal als Kapitän: Der Elmshorner Jürgen Jürs ist mit den größten Segelschiffen seiner Zeit auf allen Weltmeeren unterwegs. Der Windjammerkapitän stellt den Höhepunkt und das Ende einer Familientradition in Elmshorn dar, die geprägt ist vom Segeln und der Seefahrt. Zu seinen Reisen zählen ganz außergewöhnliche: Die längste Tour der «Pamir», die letzte Fahrt des einzigartigen Fünfmasters «Preußen», eine im Film dokumentierte Umrundung Kap Hoorns mit der «Peking» oder auch die beschriebene Jungfernreise der «Priwall» mit mehr als 200 Mann «Besatzung».
Max Heinrich Jürgen Jürs wird am 30. August 1881 in Elmshorn geboren. Nach dem Besuch der Hafenschule heuert er 1897 im Alter von 16 Jahren bei der Hamburger Reederei Laeisz an. «Pirat» heißt das erste Schiff, auf dem er für die Reederei mitfährt. Jürgen Jürs segelt in seinem Leben fast alle der insgesamt acht sogenannten Flying P-Liner, wie die schnellen Laeiszschen Frachtsegler heißen, deren Namen alle mit einem «P» beginnen: Die Viermastsegler «Pisagua», «Pangani», «Pamir», «Priwall», «Peking», «Passat», «Padua» und den Fünfmastsegler «Preußen».
Als Jürs 1938 von Bord der «Padua» geht, wird er nach 41 Berufsjahren zum letzten Windjammer-Kommandanten der Seefahrtsgeschichte, der ausschließlich Frachtsegler ohne Motor führte. Der letzte jemals gebaute Tiefwasser-Frachtsegler «Padua», der nur unter Segeln regelmäßig Kap Hoorn umrundete, muss nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion abgeliefert werden. Die Übergabe-Fahrt beginnt 1945, das Jahr, in welchem auch der 64-jährige Kapitän Jürs zuhause in Elmshorn am 21. Dezember verstirbt.
Der amerikanische Autor und Segler Irving Johnson beschreibt Jürgen Jürs mit folgenden Worten: «Der Kapitän bot ein großartiges Schauspiel, wenn er laut rufend, fürchterlich fluchend und mit den Armen wedelnd über Deck stampfte. Er war das lebende Abbild eines verknitterten, bellenden, mit allen Wassern gewaschenen Seebären.» Johnson hält in seinem 16-mm-Amateurfilm «Around Cape Horn» die Umsegelung von Kap Horn auf der «Peking» im Jahr 1929 fest, die unter dem Kommando von Kapitän Jürgen Jürs stattfindet.