Von Walter Krumbach
Der Film wurde nach dem autobiographischen Roman «A Long Way Home» von Saroo Brierley gedreht. Der fünfjährige Saroo begleitet seinen größeren Bruder Guddu zur Arbeit. Sie klauen Kohle, um sie gegen Milch einzutauschen. Als Guddu seinen Bruder anweist, auf dem Bahnhof auf ihn zu warten und nicht zurückkehrt, steigt Saroo in einen leeren Personenzug und schläft ein.
Der Zug hat 1.600 Kilometer zurückgelegt, als es dem Jungen endlich gelingt, in Kalkutta auszusteigen. Er spricht nur Hindi, kann sich daher nicht auf Bengalisch verständlich machen. Zudem kennt er seinen Nachnamen nicht. Bettelnd schlägt er sich durch, bis er von einem Waisenhaus aufgenommen wird. Die Behörden geben ihn zur Adoption frei, ein australisches Ehepaar nimmt ihn liebevoll auf, Saroo findet in Tasmanien eine neue Heimat.
Zwei Jahrzehnte später quält ihn der Gedanke, was aus seiner leiblichen Familie geworden ist. Er sitzt nächtelang am Computer, errechnet Strecken und Eisenbahngeschwindigkeiten. Anhand von Google-Earth-Aufnahmen gelingt es ihm tatsächlich, seine vertraute Heimatstadt zu erkennen. Der Entschluss, nach Indien ins Ungewisse zu reisen, fällt ihm nicht schwer, zumal er mit der Unterstützung der Eltern und seiner Freundin rechnen kann.
Garth Davis lässt den sensiblen Stoff mit Werbe-Ästhetik fotografieren. Nicht umsonst hat er in jener Branche seine ersten beruflichen Erfahrungen gesammelt. Die erlesenen, aparten Bilder sind für die Handlung eine ideale Unterlage, sowohl für den ersten ereignisreichen und bewegten Teil, als auch für die darauffolgenden Episoden in Australien, wo die psychologischen Konflikte im Vordergrund stehen. Die Blu-Ray-Disc gibt die dramatische Atmosphäre farblich und kontrastmäßig ungemein überzeugend wieder. Der Ton ist unspektakulär, obwohl adäquat.
Unter den Extras ist eine 20-minütige Dokumentation über die Dreharbeiten empfehlenswert. Buchautor Brierley schildert in einem Interview, wie er als junger Erwachsener mit der Hilfe von Google Earth seine Heimatstadt ausfindig machte. Hauptdarsteller Nicole Kidman, Rooney Mara und Dev Patel sowie Regisseur Garth Davis werfen im Gespräch einen Blick hinter die Kulissen. Dabei entstehen informative Beschreibungen der Herangehensweise an den emotionsgeladenen Stoff, der zum einen mit der erforderlichen Sensibilität angefasst werden musste, um glaubhaft zu wirken, aber zum anderen sahen sich Regisseur und Darsteller genötigt, die Gefühle zurücknehmen, um nicht Gefahr zu laufen, die Geschichte in ein sentimentales Melodram abdriften zu lassen, was ihnen im Endeffekt durchaus glückte.
Außerdem kann man Szenen, die der Schere beim Bearbeiten der Endfassung zum Opfer fielen, einsehen und sich den Werbesong «Never give up» anhören.
«Lion», USA, Australien, England, 2016. Regie: Garth Davis. Produktion: Emile Sherman, Iain Canning, Angie Fielder. Drehbuch: Luke Davies. Musik: Volker Bertelmann, Dustin O‘Halloran. Kamera: Greig Fraser. Schnitt: Alexandre de Franceschi. Mit: Dev Patel, Sunny Pawar, Nicole Kidman, David Wenham, Rooney Mara u. a. Spieldauer: 118 Min.
Bild ****
Ton ***
Darbietung ****
Extras ***