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Thomas-Morus-Schule: Studienfahrt der elften Klassen in die Villa Baviera

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Geschichte als Wirklichkeit erfahren

Das heutige Restaurant «Zippel-Haus» diente in der Colonia Dignidad als Versammlungsraum.
Das heutige Restaurant «Zippel-Haus» der Villa Baviera diente in der Colonia Dignidad als Versammlungsraum.

 

Von Verena Horlacher
DFU-Leiterin DS Morus

Im ersten Semester beschäftigten sich die elften Klassen in Religion mit dem Thema «autoritäre Religionsgemeinschaften» und in Geschichte mit dem Thema «autoritäre Staaten». Wie entstehen autoritäre Systeme? Welcher Herrschaftsmethoden bedienen sie sich? Welche Auswirkungen haben sie auf eine Gesellschaft? Wie weiterleben nach dem Fall autoritärer Systeme? Welche Rolle spielen Gedenken und Erinnerung? Welche Verantwortung entsteht für nachkommende Generationen?

Es entstand die Idee, sich diesen – immer aktuellen – Fragen durch eine Studienfahrt in die Villa Baviera, der ehemaligen Colonia Dignidad, anzunähern, zumal im Fach Religion der 2016 erschienene Film «Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück» von Florian Gallenberger gezeigt und analysiert wurde.

Der Film erzählt eine fiktive Geschichte vor dem Hintergrund der realen Colonia Dignidad, einer deutschen Gemeinschaft, die sich 1961 im Süden Chiles ansiedelte. Deren Gründer Paul Schäfer wurde zu dieser Zeit in Deutschland bereits wegen sexuellen Missbrauchs polizeilich gesucht und setzte sich, um einer Verhaftung zu entkommen, mit seinen Anhängern nach Chile ab.

 

«Es war noch schlimmer»

Hoffte man noch, dass die im Film gezeigten furchtbaren Lebensbedingungen in der Colonia – Trennung von Familien, sexueller Missbrauch, harte körperliche Arbeit ohne Lohn, drakonische Strafen, Psychopharmaka, Überwachung, Zäune, Stolperdrähte – dramaturgisch übertrieben sind, belehrte uns unser Besuch dort eines Bessern: «Es war noch schlimmer», erzählt uns Jürgen, der in der Colonia geboren und aufgewachsen ist. Im Museum der Villa Baviera, das die Ex-Colonos inzwischen auf dem Gelände errichtet haben, zeigt er Fotos und schildert uns mit beeindruckender Offenheit seine Kindheit und Jugend. Mehrfach versuchte er, aus der Colonia zu fliehen – ohne Erfolg. Er wurde eingesperrt, geprügelt, gefoltert.

Immer wieder weist er darauf hin, wie perfide die Propaganda nach außen funktioniert hat und zeigt uns Fotos, auf denen sich Paul Schäfer als «guter Vater» inszenierte, umgeben von lächelnden Kindern. In Wirklichkeit trennte er deutsche und chilenische Kinder von ihren Eltern und verbot Liebesbeziehungen; er wollte entwurzelte Menschen, anstelle familiärer Bindungen setzte er nur sich selbst. «Wir wussten ja gar nicht, was Familie ist», betont Jürgen.

Auf einem weiteren Foto sehen wir den Kinderchor der Colonia, adrett gekleidet in bayrischen Trachten, die Mädchen schön frisiert – dass sie im Alltag nur dunkle, sackartige Kleider tragen und ihr Haar mithilfe alter Fahrradschläuche zusammenbinden mussten und mit Besuchern kein Wort sprechen durften, das erfahren wir von Jürgen, der uns die im Museum ausgestellten Schlauch-Zopfgummis zeigt – die wir irritiert betrachten. So habe man auch Vertreter der deutschen Botschaft blenden können, die nach Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen der deutschen Kolonie Besuche abstatteten. In dieses Kapitel deutscher Verantwortung und deutsch-chilenischer Beziehungen hat der Film wieder Bewegung gebracht; gerade erst waren Vertreter des Bundestags vor Ort, die konkrete Maßnahmen erreichen wollen, um das Leid der Opfer zu mildern.
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Deutscher Hilfsfonds für Opfer der Colonia Dignidad

Von Arne Dettmann

Deutschland will einen Hilfsfonds für die Opfer der einstigen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile einrichten. Das bekräftigten die Bundestagsabgeordneten Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), Michael Brand (CDU) und Dr. Matthias Bartke (SPD) bei ihrem fünftägigen Aufenthalt in Chile vergangener Woche. Zudem soll auf dem Gelände des ehemaligen Siedlungsareals in der Gemeinde Parral (VII. Region) eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum eingerichtet werden.

Renate Künast

«Es muss Zahlungen geben, weil die Menschen in extrem schlechter finanzieller Situation leben und Deutschland hier eine Verantwortung trägt», sagte Renate Künast auf einer Pressekonferenz in Santiago de Chile. Die drei Abgeordneten sind Mitglieder einer deutsch-chilenischen Kommission, die sich mit der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Colonia Dignidad beschäftigt. In Chile trafen sie sich mit Ministern, Abgeordneten, Wissenschaftlern, Opfern und Opferverbänden.

Schätzungsweise 250 ehemalige Kolonisten, die heute noch auf dem ehemaligen Geländer der Sekte sowie außerhalb in Chile und Deutschland leben, sollen aus dem Hilfsfonds finanziell unterstützt werden. Ob die heutige Villa Baviera ihr Restaurant und ein Hotel angesichts der zukünftigen Einrichtung eines Gedenk- und Informationsortes weiterbetreiben können, zweifelte Michael Brand indirekt an. Wo Misshandlungen, Gehirnwäsche, Folter und Mord stattgefunden hätten, dürfte jetzt nicht fröhlich gefeiert werden, so der Bundestagsabgeordnete wörtlich.

Scharfe Kritik an der deutschen Diplomatie in den 70er Jahren übte Dr. Matthias Bartke. Die deutsche Botschaft habe damals Flüchtlinge aus der Sekte nicht ernst genommen und immer wieder in die Kolonie zurückgeschickt.» Das unverantwortliche Handeln des Auswärtigen Amtes habe bereits Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2016 gegeißelt.

Die Colonia Dignidad wurde 1961 vom Jugendpfleger und Laienprediger Paul Schäfer gegründet, der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Deutschland polizeilich gesucht wurde und nach Chile floh. Die totalitäre, religiöse Gemeinschaft Colonia Dignidad, in der bis zu 350 Menschen lebten, darunter viele Auslandsdeutsche, wurde 1991 formal von Chile aufgelöst und 2005 der chilenischen Justiz zwangsunterstellt. Schäfer wurde 2006 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern für schuldig befunden und starb 2010 in einem chilenischen Gefängnis. [/box]

Konzept für eine Gedenkstätte

Wir sehen dann den Zugang zu dem ehemaligen Folterkeller der DINA und sind betroffen, ohne wirklich etwas zu «sehen». Auch dieses Thema, die Kollaboration Paul Schäfers und seiner Führungsriege mit der DINA, die dorthin Regimegegner verschleppte, wird im Film deutlich. Sofort haben wir die Bilder im Kopf, Schicksale, die untrennbar mit der heutigen Villa Baviera verbunden sind.

Der Kontrast zwischen dem touristischen Konzept des «bayrischen Dorfes», das nach Schließung der Colonia umgesetzt wurde, und dem schrecklichen Erbe des Folterlagers führt heute zu nicht unerheblichen Konflikten – und zu Fragen von unserer Seite. «Man muss auch an die Seelen der Bewohner denken, die hier jahrzehntelang gelebt haben», sagt hierauf Anna Schnellenkamp, die ebenfalls in der Colonia geboren wurde und heute Hotel und Restaurant leitet. «Wir Jüngeren schaffen es, diesen Ort zu verlassen, viele Ältere trauen sich das aber nicht mehr oder können es einfach nicht.» Sie sieht im Tourismus nicht nur eine finanzielle Sicherung der Bewohner, die bis 2005 niemals einen Lohn für ihre Arbeit bekommen haben, sondern gleichzeitig auch einen Integrationsfaktor: «Es haben sich Freundschaften gebildet, es ist nur durch den Tourismus überhaupt Leben hier entstanden.»

Sie wünscht sich außerdem ein gemeinsames Konzept für eine Gedenkstätte auf dem Gelände; Angehörige von Verschwundenen und Exekutionsopfern, chilenische Menschenrechtsorganisationen, ehemalige und heutige Bewohner der Ex-Colonia, sie alle sollen gemeinsam dafür sorgen, «dass die Geschichte nicht untergeht». Unterstützung erhofft sich Schnellenkamp hierbei von Experten, es gab auch bereits Konferenzen, um die verschiedenen Gruppen in einen Dialog zu bringen. Aber die Gräben seien tief, die Vorstellungen unterschiedlich.

So hat uns unsere Fahrt in die Villa Baviera nicht nur die beklemmende Geschichte näher gebracht, sondern auch die Schwierigkeit deutlich gemacht, wie man damit umgeht. Wie kann Gedenken und Erinnern gelingen? Wie schafft man eine Erinnerungskultur? Fest steht: Ohne gemeinsames Gedenken und Erinnern und ohne Wissen um das begangene Unrecht kann Versöhnung nicht gelingen.

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