Paris, 1793. Eine blonde Frau mit zerzaustem Haar umarmt zum letzten Mal ihre Kinder und wird auf einem Karren unter dem Hohn der Menge zum Schafott gefahren. Henkergehilfen treffen umständlich die Vorbereitungen zur Hinrichtung. Endlich saust das Fallbeil nieder. Der Scharfrichter hält den bluttriefenden Kopf von Königin Marie Antoinette hoch, das Volk johlt. In der Menschenansammlung ist der junge Offizier Napoleon Bonaparte zu erkennen.

Die Eingangssequenz von «Napoleon» verdeutlicht bereits zwei Charakteristika dieses Films: Erstens, dass Regisseur Ridley Scott nicht mit abstoßenden Spezialeffekten spart und zweitens, dass er sich nicht unbedingt an historisch belegte Fakten halten wird. Zurzeit von Marie Antoinettes Hinrichtung weilte Napoleon nämlich nicht in Paris, sondern nahm an der Belagerung von Toulon teil. Während des Gefechts bei den Pyramiden in Ägypten, in dem die Franzosen die Mamluken vernichtend schlugen, waren die großen Bauwerke zwar in Sicht, wurden aber keineswegs, wie im Film dargestellt, von Artilleriefeuer getroffen. Als Scott über diesen Fehler befragt wurde, antwortete er, die Szene habe den Zweck gehabt, auf «eine schnelle Art zu sagen, dass Napoleon Ägypten eingenommen hat».
«Napoleon» versteht sich als Biografie des Korsen. Im Mittelpunkt steht seine Beziehung zu Joséphine de Beauharnais und die politischen sowie militärischen Ereignisse, an denen er teilnahm: der Ägyptenfeldzug, seine Krönung zum Kaiser und die Schlachten in Austerlitz, Russland und Waterloo.
Trotz der Länge des Streifens wird man wegen des lückenhaften Handlungsablaufs als Zuschauer das Gefühl nicht los, dass einiges fehlt, dass der Stoff zum Teil oberflächlich angegangen wurde. Dies erklärt sich daran, dass die ursprüngliche Spieldauer von drei Stunden und 14 Minuten auf zwei Stunden und 38 Minuten zusammengeschnitten wurde. Ebenso sind einige Rollenporträts enttäuschend, angefangen bei Joaquín Phoenix als Napoleon: Er wirkt eindimensional und ausdrucksarm, nicht zu vergleichen etwa mit der vielschichtigen, absolut überzeugenden Darstellung von Rod Steiger in «Waterloo» (1970).
Die Inszenierung ist auf großes Spektakel angelegt. Die Schlachten sind detailliert ausgearbeitet, die Massenszenen sorgfältig choreografiert. Die düstere Handlung spielt sich auf ebenso finsteren Schauplätzen ab. Die französische Revolution findet in kahlen Sälen statt, in denen rabenschwarze Schatten einen Großteil des Bildes verdunkeln. Der russische Winter ist in kaltem Blau gehalten, der Ägypten-Handlungsablauf dagegen strahlend ausgeleuchtet.
Ridley Scotts Sorgsamkeit, bewegte Handlungsabläufe gut einzufangen, kontrastiert mit seiner Unsicherheit bei der tiefenpsychologischen Ergründung der Hauptpersonen – ein schweres Manko, handelt es sich doch um einzigartige geschichtliche Persönlichkeiten wie Wellington, Zar Alexander I., Blücher und nicht zuletzt Joséphine und Napoleon. Wer sich einen historischen Film anschaut, dem geht es aber zuallererst um diese geschichtlichen Figuren. Und die sind hier recht grob gezeichnet. Da muss man sich fragen: Waren diese mittelmäßigen Resultate möglicherweise ein Grund dafür, dass die Produzenten der Blu-Ray-Ausgabe auf Bonusmaterial völlig verzichteten?
«Napoleon» USA, Vereinigtes Königreich 2023. Regie: Ridley Scott. Produktion: Mark Huffam, Ridley Scott, Kevin J. Walsh. Drehbuch: David Scarpa. Kamera: Dariusz Wolski. Ton: Stephane Bucher. Schnitt: Sam Restivo, Claire Simpson. Musik: Martin Phipps. Mit Joaquín Phoenix, Vanessa Kirby, Tahar Rahim, Rupert Everett, Mark Bonnar, Paul Rhys u. a. Spieldauer: 158 Min.
Bild ****
Ton ****
Darbietung ***
Extras *