Der «Säulenheilige» von Berlin
Diesen Gassenhauer hörte man in den 1850er Jahren überall in Berlin. Und bis heute ist der Buchdrucker und Verleger Ernst Theodor Amandus Litfaß vermutlich der Mann mit den meisten «Denkmälern» in Deutschland – die genaue Zahl ist nicht bekannt, aber mindestens 50.000 Litfaßsäulen stehen in den Städten der Bundesrepublik.
Ernst Theodor Amandus Litfaß kam am 11. Februar 1816 in Berlin als Sohn von Ernst Joseph Gregorius Litfaß und Caroline Wilhelmine Litfaß, geborene Klitzing zur Welt. Acht Tage nach seiner Geburt verstarb sein Vater, der Gründer der Litfaßschen Buchdruckerei. Die verwitwete Mutter heiratete später den bekannten Berliner Buchdrucker und Buchhändler Leopold Wilhelm Krause.
Nach dem Besuch der Schule beendete Ernst Litfaß eine Lehre als Buchhändler. Diesen Beruf übte er jedoch zunächst nicht aus, sondern unternahm stattdessen ausgedehnte Bildungsreisen ins westliche Europa und versuchte sich in der Schauspielerei. In dieser Zeit gründete er das Theater Lätitia am Rosenthaler Tor in Berlin, das später in das Vorstädtische Theater umbenannt wurde. Erst ab 1845 arbeitete er als Buchhändler. Nach dem Eintritt in das stiefväterliche Druck- und Verlagshaus übernahm Ernst Litfaß das Geschäft vollends nach dem Tod seines Stiefvaters im Jahr 1846.
Paris, Brüssel und London als Vorbild
Während der März-Revolution wurde Litfaß zum Herausgeber einiger Flugschriften und Zeitungen. Aber nicht nur im Verlegen war Litfaß tätig, er führte Schnellpressen und den Buntdruck nach französisch-englischem Muster ein und druckte als erster Riesenplakate im Format 20 mal 30 Fuß (6,28 mal 9,42 Meter). 1846 wurde Litfaß mit der Formatvergrößerung und Ausstattung der Anschlagzettel, die danach Litfaßzettel genannt wurden, überall populär.
Die Idee, Plakatsäulen aufzustellen, entstand, um der damals um sich greifenden Wildplakatierung – Bekanntmachungen und Werbung für Orchesteraufführungen, Theatervorstellungen oder für den Zirkus wurden wild an Mauern und Häuserwände geklebt – entgegenzuwirken. Litfaβ nahm sich die Städte Paris, Brüssel und London, die er mehrmals bereist hatte, zum Vorbild: In London war beispielsweise schon 20 Jahre früher die so genannte «Harrissäule» bekannt, die auf Pferdewagen durch die Stadt gezogen wurde, und in Paris gab es ebenfalls schon stationäre, gemauerte Säulen; von diesen Vorbildern hat Litfaß sich offenkundig inspirieren lassen.
Erste Genehmigung in Berlin
Litfaß schlug dem Polizeipräsidenten von Berlin, Karl Ludwig von Hinkeldey, vor, überall in der Stadt Säulen aufzustellen, an denen die Menschen ihre
Plakate anhängen konnten. Nach jahrelangen Verhandlungen erhielt Litfaß am 5. Dezember 1854 die erste Genehmigung für seine «Annoncier-Säulen». Er bekam von der Stadt Berlin ein bis 1865 gültiges Monopol für die Aufstellung seiner Säulen. Sie wurden zum Massenmedium für Amtsblätter, Nachrichten, Werbung oder Propaganda.
Die Genehmigung war mit der Auflage verbunden, auch die neuesten Nachrichten an den Säulen zu publizieren. Im Jahre 1855 wurden die ersten 100 Annonciersäulen in Berlin aufgestellt und dem Erfinder zu Ehren Litfaßsäulen genannt. Sowohl die Behörden als auch die Werbekunden erkannten schnell die Vorteile des neuen Werbemediums: Von staatlicher Seite war eine vorherige Zensur der Inhalte möglich. Werbekunden konnten sich darauf verlassen, dass ihre Plakate auch wirklich für die gesamte gemietete Zeit ohne Überklebungen zu sehen sein würden.
Mahnmale des Elends
Bald stellten auch andere deutsche Städte Litfaßsäulen auf, und sie wurden zu einem der Massenmedien der Moderne: Amtsblatt, Zeitung und Illustrierte in einem: Während der «Einigungskriege» 1864 und 1871 ließ Litfaß, schneller als alle Zeitungen, die neuesten Frontdepeschen plakatieren; in der Weimarer Republik suchten Streikankündigungen, Wahlplakate und die monatlichen UFA-Filmpremieren Aufmerksamkeit; im Nationalsozialismus dominierten Propaganda und Hetzaufrufe und unmittelbar nach dem Krieg machten tausende Suchmeldungen die Litfaßsäulen zu Mahnmalen des Elends. Aber bald klebten wieder Weltbewegendes und Werbliches einträchtig nebeneinander.
Ende 2019 wurde geplant, dass alle alten Säulen in Berlin abgebaut und durch etwa 1.500 neue Modelle ersetzt werden. Um die Tradition jedoch zu erhalten, sollten einige historische Litfaßsäulen unter Denkmalschutz gestellt werden. Die Prüfung durch das Landesdenkmalamt, ergab, dass 24 Säulen schützenswert sind. Die wahrscheinlich älteste erhaltene Litfaßsäule steht am Hackeschen Markt und wurde um das Jahr 1900 errichtet. Die Jüngste ist ein Nachbau, der 1987 für das Nikolaiviertel in Mitte hergestellt wurde. Seit April 2019 setzt sich das Projekt Litfass Goes Urban Art dafür ein, dass alle 24 denkmalgeschützten Litfaßsäulen nicht mehr für kommerzielle Werbung verpachtet, sondern an ein Bündnis aus Berliner Kulturschaffenden und lokalen Kulturinstitutionen übergeben werden.