Im Jahr 1934 erklang sie zum ersten Mal: Zum Festgottesdienst am 29. Juli in der überfüllten Erlöserkirche an der Straße Lota traten die Chöre Singkreis Los Leones und Frohsinn auf. Nach der Predigt von Pfarrer Friedrich Karle spielte Hermann Kock die Toccata und Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach. Die Orgel war bei der renommierten Firma Walcker in Ludwigsburg in Auftrag gegeben worden. Am gleichen Abend gab Kock ein Konzert, bei dem Werke von Dieterich Buxtehude, Franz Liszt und Max Reger zu Gehör kamen.
In den folgenden 90 Jahren war das Instrument nicht nur ein wichtiger Bestandteil der Gottesdienste, sondern auch der Konzerte, die in der Erlöserkirche gegeben wurden. Zahlreiche Organisten spielten in diesem langen Zeitraum auf dem Instrument, darunter herausragende Musikerpersönlichkeiten wie der bereits erwähnte Hermann Kock, Gerd Zacher, Harald
Börger und Hellmuth Arias. Seit 32 Jahren ist Patricia Rodríguez Seeger die Titularorganistin der Erlöserkirche. Der runde Geburtstag des geschätzten Instruments war Anlass zu folgendem Gespräch mit ihr.
Cóndor: Erinnerst du dich, wann du zum ersten Mal auf der Walcker-Orgel gespielt hast?
Patricia Rodríguez Seeger: Ja, im August 1992. Es war eine Vertretung für Hellmuth Arias. Ich hatte ihm einige Male beim Spiel zugeschaut. Dann habe ich die Orgel selber ausprobiert.
Welches war dein erster Eindruck von dem Instrument?
Der Anschlag war ganz anders als auf dem Klavier. Ich bin ja von der Ausbildung her Pianistin. Die Tastatur ist zwar doppelt, es sind in diesem Fall zwei sogenannte Manuale, und die haben jeweils weniger Oktaven als ein Klavier.
Wie würdest du den Klang der Orgel beschreiben?
Sie hat einen imposanten Klang, der sich sehr gut für religiöse Werke eignet und die Kirche ganz beeindruckend ausfüllt.
Das Instrument wurde seinerzeit in Auftrag gegeben, um die Gottesdienste musikalisch zu untermalen. Eignet es sich auch für die Unmenge von Konzertliteratur, die auf dem Gebiet der geistigen Musik im Laufe der Jahrhunderte entstanden ist?
Auf jeden Fall. Sie hat vielfältige Klangfarben, die dieser Art von Konzertliteratur absolut gerecht werden.
Eignet diese Orgel sich deiner Meinung nach besonders für eine bestimmte Musikepoche wie Barock, Klassik oder Romantik?
Barock auf jeden Fall, so ähnlich wie auf dem Cembalo, das ja bekanntlich eine reduzierte Tastatur besitzt. Bach zum Beispiel kann man auf kleineren Manualen gut spielen. Für die Romantik dagegen sind größere Orgeln mit mehr Manualen und somit mehr Möglichkeiten geeigneter.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichten die großen Orgelbauer wie Aristide Cavaillé-Coll den Komponisten völlig neue Alternativen auf dem Instrument. Kann man jenen Werken auf dieser relativ kleinen Orgel gerecht werden?
Das hängt von jedem Stück ab. Ein guter Organist kann sich in diesem Fall darauf einrichten. Das ist von Komponist zu Komponist anders. Kürzlich besuchte uns Eduardo Cáceres, der gerade mit einem Auftragswerk von einem deutschen Organisten beschäftigt ist. Er erkundigte sich nach den Möglichkeiten des Instruments und korrigierte unter anderem innerhalb seiner Komposition Tonhöhen, Klangfarben und die Verwendung der Pedale.
Die Orgel ist während deiner Amtszeit wiederholt repariert und auch modernisiert worden. Wie hat sich das auf den Klang und auf die Spieltechnik ausgewirkt?
Früher war die Orgel mit einer sogenannten pneumatischen Traktur ausgestattet, das heißt, die Tasten waren mit den Spiel- beziehungsweise Tonventilen verbunden, und öffneten somit direkt die Luftzufuhr. Heute ist das elektronisch. Wenn man eine Taste drückt, leitet ein Kabel den Befehl weiter. Als Organistin ist mir das viel bequemer, denn jetzt ist der Ton, den ich anschlage, sofort, ohne Verzögerung, «da».
Kannst du uns verraten, ob dich ein bestimmtes Werk oder ein bestimmter Komponist besonders anspricht, wenn du sie spielst?
Hauptsächlich Johann Sebastian Bach. Ich mag sehr viele Komponisten, aber Bach ist mir sehr vertraut, was nicht heißen soll, dass dieser Tonsetzer einfach zu spielen ist. Im Gegenteil, viele seiner Werke sind technisch sehr anspruchsvoll.
Die Fragen stellte Walter Krumbach.
Firma Walcker – bedeutendster deutscher Orgelbauer des 19. Jahrhunderts
Eberhard Friedrich Walcker ist 1794 in Cannstatt geboren und war wie noch sein Enkel Oscar Walcker (1869–1948) Unternehmensinhaber und «Walcker Hof-Orgelbaumeister unter König Wilhelm II. von Württemberg und Lieferant des Vatikans».
Das auf ihn zurückzuführende Orgelbauunternehmen in Ludwigsburg gehörte zeitweilig zu den größten und renommiertesten weltweit.
Sein erstes bedeutendes Werk war die 1833 fertiggestellte Orgel in der Frankfurter Paulskirche (Opus 9), die international Beachtung fand. Für die heutige Michaeliskirche in Hamburg erbaute die Firma E.F. Walcker & Cie. im Jahre 1912 als opus 1700 die damals größte Orgel der Welt mit 12.173 Pfeifen und 168 Registern auf fünf Manualen und Pedal, die im Ersten Weltkrieg große Schäden erlitt und durch einen Neubau ersetzt wurde.
2000 musste das Unternehmen Walcker Insolvenz anmelden, ein Nachfolgeunternehmen ging zwei Jahre später in Konkurs.