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lunes, 9. septiembre 2024
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Gespräch – Stephan Vavrik

Österreichischer Botschafter in Chile

Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes umgesetzt

Wie haben Sie Chile im Rückblick erlebt – im Vergleich zu Ihren Erwartungen und bisherigen Erfahrungen vor Ihrer Ankunft?

Chile war auch für meine Gattin eine Wunschdestination bei meinen Bewerbungen für einen österreichischen Botschafterposten, sodass wir beide von Anfang an sehr positiv eingestellt waren. Wir hatten immer schon eine kulturelle Affinität für Lateinamerika, sodass wir uns freuten, nach Mexiko nun die südliche Hemisphäre des lateinamerikanischen Kontinentes kennenzulernen. 

Chile war in meinen beruflichen Erwartungen als OECD-Mitglied die «Schweiz» Lateinamerikas mit einem in der Region einmaligen Wirtschaftserfolg seit dem Ende der Militärdiktatur. Wenngleich das erste Jahr wegen der Nachwehen des «estallido» und der Pandemie etwas schwieriger war, bestätigte sich dieser Eindruck. Ich bin überzeugt, dass Chile, dank seiner Reserven bei Kupfer und Lithium sowie seines Potenzials bei grünem Wasserstoff zu einem der wichtigsten Akteure bei der Dekarbonisierung der westlichen Wirtschaftssysteme werden wird. Chile verfügt über eine starke und resiliente Demokratie, eine sehr gute Infrastruktur und eine gut ausgebildete Bevölkerung, bei hervorragenden makroökonomischen Rahmenbedingungen. Überrascht hat mich eigentlich die Tatsache, dass Ausländer (inklusive der Diplomaten) und internationale Investoren oft eine viel positivere Einschätzung der Lage haben als die Chilenen selbst.  

Was war ein besonders wichtiger Abschnitt für Sie in den letzten fast vier Jahren als Botschafter in Chile?

Der wichtigste Abschnitt war eindeutig der verfassungsrechtliche Prozess, mit den zwei Entwürfen zu einer neuen Verfassung und den dazugehörigen Referenden, aber vor allem auch die parallellaufenden Diskussionen über alternative gesellschaftliche und politische Systeme sowie die Aufarbeitung des «estallido social». Wenngleich es nicht gelang, über diesen Prozess eine «casa de todos» auszuarbeiten, bewies sich das politische System in Chile als extrem resilient. 

Für mich war es eine Bestätigung, dass vor allem ein historisch gewachsener gesellschaftspolitischer Konsens die wichtigste Basis für einen optimal funktionierenden Wohlfahrtsstaat westlicher Prägung ist, und eine Verfassung nur ein Kontrollmechanismus sein, aber diesen nicht ersetzen oder aufzwingen kann. In Gesprächen mit chilenischen Freunden konnte ich auf das Beispiel Österreichs hinweisen, einen Staat mit einer sehr starken sozialen Kohäsion und hohen staatlichen Transferleistungen, ohne dass dies in der vor hundert Jahren von Kelsen formulierten Verfassung verankert oder vorgegeben wäre.   

Wie haben Sie die österreichische Gemeinschaft in Chile erlebt? Vielleicht auch im Vergleich zu anderen Ländern?

Die österreichische Gemeinschaft in Chile ist zahlenmäßig bescheiden, aber sehr diversifiziert, was die professionelle und altersmäßige Diversifizierung anbelangt. Ich hatte dabei das Glück, eine längst fällige Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes umzusetzen, die 2019 angenommen wurde und es Opfern des NS-Regimes und deren Nachkommen ermöglicht, die österreichische Staatsbürgerschaft durch Anzeige zu erhalten. In meinen vier Jahren in Chile konnten bereits circa 350 Chilenen die österreichische Staatsbürgerschaft wiedererlangen, womit sich die österreichische Community um fast 20 Prozent erhöhte! 

Was hat Sie persönlich besonders in den drei Jahren beeindruckt?

Die klimatische und geographische Vielfalt Chiles mit ihren Naturwundern, seien es die blühende Wüste im Norden, der Sternenhimmel der Atacama-Wüste, die Anzahl höchstgelegener Vulkane, die Weite Patagoniens, die berühmten Humboldt-Pinguine im Süden oder die Moai auf Rapa Nui! Auf einer ganz anderen Ebene, als täglicher Radfahrer, die Gelassenheit des chilenischen Autofahrers gegenüber einer roten Ampel und sonstigen Verkehrsregeln.

Werden Sie etwas von Chile für sich mitnehmen, was für Sie neu war oder was Sie dazugelernt haben?

Neu habe ich dazugelernt, dass Sonne nicht gleich Sonne und Wind nicht gleich Wind ist. Erst mit der Auseinandersetzung mit dem Potenzial Chiles im Bereich erneuerbare Energien habe ich erfahren, dass dank der Klarheit der Luft in der Atacama Wüste Fotovoltaik-Paneele dort den weltweit höchsten Wirkungsgrad haben, und dass die Windqualität onshore in Patagonien jener der besten offshore Bedingungen in der Nordsee entspricht.

Auf politischer Ebene nehme ich mit, wie wichtig das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen staatlichen Institutionen zur Vermeidung sozialer Krisen ist, und entsprechende Indikatoren als Frühwarnsysteme für die Politik dienen können. Auch ist mir indirekt im Vergleich zu den Bemühungen einer regionalen Integration und Kooperation in Lateinamerika bewusst geworden, welchen immensen Vorteil die Europäische Union als politisches und sozioökonomisches Projekt in einer immer stärker globalisierten Welt vor allem für kleine und mittelgroße Staaten mit sich bringt.  

Werden Sie wiederkommen?

In den nächsten Jahren werde ich mich prioritär der Erkundung Tunesiens und Nordafrikas widmen, aber danach könnte ich mir durchaus vorstellen, dass wir wieder auf Urlaub nach Chile kommen, auch um liebgewordene Freunde zu besuchen.

Die Fragen stellte Silvia Kählert.

Foto: Österreichische Botschaft

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