Horror ist nichts anderes als Realität
Im Studio erschien er im dunklen Anzug, weißen Hemd und meist band er sich eine schwarze Krawatte um. Seine Anweisungen waren äußerst präzise. In den Sucher schaute er nie herein. Es war nicht nötig, denn das verwendete Objektiv, die Platzierung der Kamera und der Szenenaufbau vermittelten ihm rein vom Beobachten her einen genauen Eindruck von dem Bild, das auf dem Filmnegativ entstehen würde. Alfred Hitchcock, einer der begabtesten Filmregisseure des 20. Jahrhunderts, war mit der Technik ebenso vertraut wie mit den zahlreichen künstlerischen Ingredienzen, die ein Filmemacher beherrschen muss.
Eigentlich wollte er Ingenieur werden. Daher meldeten seine Eltern den 14-jährigen aufgeweckten Jungen im Sommer des Jahres 1913 an der London County Council School of Engineering and Navigation an. Hier musste er Mechanik, Elektrizität, Akustik, Physik und Chemie pauken. Mit letzterem Fach konnte er nichts anfangen: «Dinge mit Schwefelsäure schmelzen, wen interessiert so etwas schon?», meinte er Jahrzehnte später kopfschüttelnd.
Alfred war künstlerisch begabt, konnte gut zeichnen und hatte eine Vorliebe für Literatur. Seine Aufmerksamkeit galt dem Film, ein Medium, das damals das Publikum massenweise anlockte. Mit 16 stieß er zum ersten Mal auf Werke von Edgar Allan Poe. Die spannenden und zum großen Teil makabren Erzählungen beeindruckten den Teenager dermaßen, dass er sich später, als er bereits ein etablierter Filmemacher war, auf Suspense und Mord und Totschlag spezialisierte.
Er war keine 18, als die Firma Henley’s ihn als Zeichner ihrer Reklameabteilung engagierte. Alfred musste Annoncen illustrieren und als 1919 eine amerikanische Filmgesellschaft in England eine Zweigstelle eröffnete, bewarb er sich erfolgreich. Zunächst musste er die Zwischentitel zeichnen, ein wichtiges Mittel, das den Zuschauern in der Stummfilmzeit ermöglichte, die Gespräche der handelnden Personen zu verfolgen.
Tätigkeit in Deutschland
Die erste Gelegenheit, Regie zu führen, kam 1922, als er Seymour Hicks bei «Always Tell Your Wife» assistierte. Der Film wurde nicht vollendet und es ist ungewiss, welche Szenen unter den erhaltenen Bestandteilen aus Hitchcocks Feder stammen.
In der folgenden Zeit schrieb er Drehbücher, skizzierte Schauplätze, bereitete die Besetzung vor und beaufsichtigte die Verwendung von Kostümen und Requisiten. Zu dieser Zeit lernte er die Schnittmeisterin Alma Reville kennen, die er später heiratete.
Im Jahr 1924 schloss das Gainsborough Studio, für das Hitchcock tätig war, ein Abkommen mit der deutschen Firma Universum Film AG (UFA). Der Vertrag hatte zur Folge, dass der nächste Film der Briten, «The Blackguard», in Neubabelsberg bei Berlin gedreht wurde. Auf dieses Studio in Deutschland richteten sich damals die Blicke der Filmschaffenden aus aller Welt. Hitchcock nahm die Gelegenheit wahr, die Dreharbeiten von Friedrich Wilhelm Murnaus «Der letzte Mann» zu beobachten und das Studio, wo Fritz Langs «Metropolis» inszeniert wurde, zu besuchen. Diese Besichtigungen waren
für ihn «eine enorm produktive Erfahrung», während der er sich «dem Einfluss des mächtigsten und vorherrschenden europäischen Stummfilms aussetzte».
Hitchcocks erster Film als Regisseur ist «The Pleasure Garden», den er nach Auflösung des Vertrags mit der UFA inszenierte. Die Studioaufnahmen drehte er in Geiselgasteig bei München, die Szenen unter freiem Himmel fing er in Italien ein. Es folgte der Streifen «The Mountain Eagle», den er in Österreich filmte. Als Alfred Hitchcock, ganze 26 Jahre alt, nach London zurückkehrte, hatte er somit im Ausland zwei Filme gedreht, die sich stilistisch an den deutschen Expressionismus der damaligen Zeit anlehnten, aber ohne Zweifel gleichzeitig persönliche Merkmale seines Autors aufwiesen.
Der Tonfilm – eine Offenbarung
Im Jahr 1929 kam der Tonfilm in die Kinos. Dieser Zusatz war weit mehr als ein dramaturgisches Hilfsmittel, er veränderte die Filmästhetik vollends. Die lästigen Zwischentitel fielen weg, die beliebten Stars erhielten durch den Klang ihrer Stimme plötzlich ein völlig neues Erscheinungsbild. Allerdings befürchteten einige Künstler, dass das neue Medium mit den ungewohnten Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Karriere ein Ende bereiten würde, was in einigen Fällen auch passierte. Der Erfinder Thomas Alva Edison ging so weit, in einem Interview zu prophezeien, dass der Tonfilm keine Zukunft habe, weil die Rieseninvestition, die jeder Kinobesitzer vornehmen musste, um neue Projektoren, Verstärker, Lautsprecher und das nötige Zubehör anzuschaffen, von den meisten nicht bewältigt werden konnte. Edison irrte: Innerhalb der folgenden sechs Monate waren sämtliche Lichtspielhäuser der USA, auch jene in den kleinsten Provinznestern, mit Tonfilmanlagen ausgerüstet.
Für Alfred Hitchcock war der Tonfilm eine Offenbarung. Bei dem Streifen «Erpressung» (1929), der eigentlich als Stummfilm vorgesehen war, konnte er bei den Produzenten durchsetzen, eine Rolle mit Ton nachzudrehen. Er stattete einige entscheidende Szenen mit ausdrucksvollen Geräuscheffekten und Dialogen aus. Dieser erste britische Tonfilm wurde zum Triumph – Hitchcock stand nunmehr im Rampenlicht und nahm die Gelegenheit wahr, seine eigene Firma Hitchcock Baker Productions Ltd. zu gründen. Sie diente nicht nur der Schaffung seiner Filme, sondern auch der Vermarktung seiner Person. Hitchcock verstand es, sich zu verkaufen. Es entstanden zahllose Fotos, in denen er sich in Szene setzt, sei es als erstochene oder im Wasser treibende Leiche, oder in Begleitung von Raben, Hunden und einem Löwen, mit einem Revolver auf ein unbekanntes Objekt zielend, als Totengräber ein Grab aushebend, oder genüsslich Zigarre rauchend. Dabei trägt er stets einen dunklen Anzug und ein blütenweißes Hemd, meist hat er sich auch eine schwarze Krawatte umgebunden. In dieser Aufmachung erschien er übrigens immer im Studio.
Grauen, Schauder, Furcht und Horror
Seine Laufbahn konzentrierte sich in den folgenden Jahrzehnten auf England und die USA. Kennzeichen seiner Filme sind Grauen, Schauder, Furcht und Horror. Dabei nutzte er diese Mittel nicht als bloße Effekthascherei, sondern arbeitete sorgfältig ihre psychologische Komponente aus. Gelegentlich ließ er jedoch das Publikum im Dunkeln, wie in «Die Vögel». Die harmlos aussehenden Tiere greifen, ohne provoziert zu werden, scharenweise Menschen an. Bis zum Schluss des Streifens ist dieses Verhalten vollkommen unverständlich, da eine Aufklärung ausbleibt.
Ein besonderes Merkmal ist in Hitchcocks Werk der Humor. In «Immer Ärger mit Harry» (1955) finden vier Personen unabhängig voneinander Harrys Leiche auf einem Hügel. In der Überzeugung, ihn versehentlich umgebracht zu haben, verstecken sie den Toten. Harry wird vier Mal ein- und ausgegraben, bis endlich ein Arzt feststellt, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist. Die Kombination des Bizarr-Makabren mit dem Humor ist fast in jedem Hitchcock-Film präsent. Das gleiche Mittel wendet er im Trailer zu «Psycho» an. Der Regisseur macht einen Spaziergang durch das Bates-Motel und Normans Haus, beschreibt die Schauplätze und erzählt praktisch den ganzen Film, tut es aber dermaßen geschickt, dass er nichts von den scheußlichen Dingen, die dort geschehen, verrät. Der Zuschauer ist ahnungslos, aber umso neugieriger, was da wohl alles passiert sein mag.
Alfred Hitchcock, der am 13. August seinen 125. Geburtstag gefeiert hätte, hat ein Oeuvre hinterlassen, in dem bei Drehbuch, Kamera, Musik, Beleuchtung, Schauplatzgestaltung und vor allem Darstellerführung nichts dem Zufall überlassen wurde. Der Regisseur kümmerte sich bis ins Detail um alles, wobei ihm die Qualität des Drehbuchs das Wichtigste war: «Um einen großartigen Film zu machen braucht man drei Dinge», versicherte er, «das Drehbuch, das Drehbuch und das Drehbuch.»
Alfred Hitchcock – Filme, die man gesehen haben muss
Rebecca (1940)
Anspruchsvolles Psychodrama mit spannendem Handlungsaufbau. Rebeccas Witwer heiratet eine schüchterne Frau, die sich zunehmend in die Vergangenheit und das Verhältnis zwischen ihrem Mann und der Verstorbenen gedrängt fühlt, wobei viel Unschönes ans Tageslicht kommt.
Das Rettungsboot (1944)
Kriegsdrama auf dem Atlantik. Nachdem ein deutsches U-Boot und ein US-amerikanisches Schiff sich gegenseitig versenkt haben, treiben Überlebende beider Kähne in einem Rettungsboot auf dem Ozean. Eine Extremsituation, in der die Toleranz der Beteiligten bis zum Äußersten auf die Probe gestellt wird. Das «Hamburger Abendblatt» lobte den Film als «psychologisch wie formal-technisch ein Meisterwerk».
Cocktail für eine Leiche (1948)
Makabres Kammerspiel, das sich auf einem einzigen Schauplatz abspielt. Zwei ehemalige Klassenkameraden erwürgen einen jungen Mann in ihrer Wohnung. Daraufhin laden sie eine Gesellschaft zum Essen ein. Sie tafeln auf der Truhe, in der der Tote liegt.
Das Fenster zum Hof (1954)
Ein Fotoreporter, der durch einen Beinbruch zeitweilig auf den Rollstuhl angewiesen ist, beobachtet von seiner Wohnung aus mit Hilfe des Teleobjektivs seiner Kamera, was in der Nachbarschaft geschieht. Eines nachts, es regnet in Strömen, verlässt der Anwohner von Gegenüber mehrere Male die Wohnung mit schweren Koffern. Am nächsten Tag wickelt er ein Messer und eine Säge in Zeitungspapier… Hitchcock meinte, «Das Fenster zum Hof» sei «von Anfang bis Ende ein Denkprozess mit visuellen Mitteln».
Vertigo – Aus dem Reich der Toten (1958)
Psychothriller um einen Mann, dessen Geliebte auf tragische Weise ums Leben kommt.
Später lernt er eine Frau kennen, die ihr auf verblüffende Weise ähnelt. Er bittet sie, sich genauso wie die Verstorbene zu kleiden und zu frisieren. Mit diesem verzweifelten Versuch, die Tote aufleben zu lassen beschäftigt, kann er nicht wissen, welche bösen Zusammenhänge seine Geliebte mit der Verunglückten verbinden. Die «New York Times» bezeichnete «Vertigo» als «faszinierenden Kriminalfilm», deren «Auflösung clever, wenngleich an den Haaren herbeigezogen» sei.
Psycho (1960)
Hitchcocks wohl charakteristischstes Werk. Eine Sekretärin unterschlägt 40.000 Dollar in bar, die ihr Chef ihr aufgetragen hatte, auf der Bank zu deponieren. Sie flieht in ihrem Wagen aus der Stadt und erreicht am Abend ein Motel, wo sie zu übernachten gedenkt. Beim Duschen wird sie brutal erstochen. Während der Ermittlungen nach der vermissten Frau und dem verschwundenen Geld fällt der Verdacht auf Norman Bates, den psychisch labilen Inhaber des Motels und seine Mutter, die dieser systematisch vor Besuchern und Fahndern verbirgt.
Die Vögel (1963)
Horrorfilm, in dem Krähen, Raben, Möwen und Sperlinge unerklärlicherweise Menschen angreifen und töten. Hitchcock verwirrt den Zuschauer mit der zur Schau gestellten Aggressivität der Tiere. Zum Schluss ist das Haus der Hauptfiguren von hunderten von Vögeln umstellt. Da sie sich ruhig verhalten, nutzt die Familie die Gelegenheit, ins Auto zu steigen und davonzufahren. Eine Erklärung für das gewalttätige Verhalten der Vögel bleibt aus.
Frenzy (1972)
Die Londoner Polizei sucht fieberhaft einen Serienmörder und verdächtigt einen Unschuldigen, während der Zuschauer den Täter längst kennt. Hitchcock genießt es wieder einmal, das Kinopublikum besser zu informieren als die handelnden Personen.
Alfred-Hitchcock-Zitate
«Ich habe niemals gesagt, dass alle Schauspieler dumme Kühe sind – ich habe lediglich gesagt, dass man sie so behandeln sollte.»
«Die Länge eines Films sollte in einem direkten Verhältnis zum Fassungsvermögen der menschlichen Blase stehen.»
«Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.»
«Versuche das Publikum immer so viel leiden zu lassen wie möglich.»
«Gib ihnen Vergnügen – das gleiche Vergnügen, das sie haben, wenn sie aus einem Albtraum erwachen.»
«Das absurde Verbrechen ist wie Religion. Unglaublich, aber faszinierend.»
«Natürlich hat es schon perfekte Morde gegeben – sonst wüsste man ja etwas von ihnen.»