100 Jahre einer Hamburger Legende
Das Chilehaus in Hamburg zählt seit 2015 zum Unesco-Welterbe. Anlässlich des 100. Jubiläums erzählt Michael Batz seine spannende «Chilehausstory»: Sie handelt von einem reichen Salpeterkönig, einem Andenkondor am Schiffsbug und 4,8 Millionen Backsteinen.
Die Hamburger Speicherstadt gehört zu den größten Hafenlagerhauskomplexen der Welt und wurde mit dem benachbarten Kontorhausviertel 2015 in die Welterbeliste der Unesco eingeschrieben. Beide Stadtareale sind Sehenswürdigkeiten der Metropole in Norddeutschland, wobei das Chilehaus als architektonisches Juwel heraussticht. Mit seiner spitz zulaufenden Form erinnere es an einen Schiffsbug, schreibt die Unesco über die «Ikone des Klinkerexpressionismus», die aus 4,8 Millionen verbauten Backsteinen besteht. Von einem «einzigartigen Ensemble» ist die Rede.
Dabei war der Erbauer des Chilehauses zunächst gar nicht angetan von dem Gedanken, in Immobilien zu investieren. Der «Salpeterbaron» Henry Brarens Sloman hatte ungeheuren Reichtum mit dem Abbau von Nitratsalzen in Nordchile erwirtschaftet. Die unter dem Begriff «Salpeter» zusammengefassten stickstoffhaltigen Rohstoffe bildeten die Grundlage für Düngemittel sowie Sprengstoffe und erlebten aufgrund der hohen Nachfrage in Europa einen Boom seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Wohnungsbau und die Vermietung waren dem industriellen Selfmademan dagegen fremd. Auf Anraten seiner drei Söhne beteiligte er sich nur widerwillig an einer Grundstücksversteigerung.
Das Salpetervermögen fließt in Backsteine
Am 20. Oktober 1921 erhält er den Zuschlag. Der Salpeter-Millionär ersteigert ein 5.500 Quadratmeter großes Grundstück, auf dem einmal 69 Häuser gestanden hatten. „Und dabei habe ich sie eigentlich gar nicht haben wollen“, ist das Erste, was Henry B. Sloman sagt. Es soll ein Kontorhaus entstehen, ein Gebäude zur Unterbringung von Büroräumen für Unternehmen, wobei eine Klausel auch den Bau von Kleinwohnungen vorschreibt.
Der Architekt Fritz Höger überzeugt mit seinem Entwurf zum Chilehaus. Allerdings muss er das bereits gekaufte Ziegelmaterial verwenden, das Sloman zuvor von anderen Architekten übernommen hatte. «Was soll ich mit dem Dreck machen!», äußerte sich Höger abschätzig, denn die Steine waren dritte Wahl, ungleichmäßig in Farbe und Zustand, durchsetzt mit Fehlbränden. Doch gerade diese Beschaffenheit wird später den Reiz des Chilehauses ausmachen.
Ein scharfer Winkel am Schiffsbug
Auf dem Baugrund des einstigen Gängeviertels – eng bebaute Wohnquartiere mit alten Fachwerkhäusern – entsteht nun ein Meilenstein der Baukunst und demonstrativer Wurf der Hamburger Moderne, ein «Synonym für die Power des Kapitalismus» schlechthin, schreibt Michael Batz. Doch was ist nun so faszinierend am «Mythos Chilehaus»?
Wer sich vor die Spitze des imposanten Gebäudes stellt, hat das Gefühl, auf einen gewaltigen Schiffsbug zu blicken. Wie eine Galionsfigur thront dort der angebrachte Andenkondor aus Keramik und symbolisiert den ökonomischen Hintergrund des Hauses. Während die eine „Schiffsseite“ gerade ist, kommt die südliche Längsseite geschwungen daher und mündet am Bug in einen scharfen Winkel – Europas knalligsten Fassadenwinkel, «a shilhouette of the shrillist Expressionist order», so ein amerikanischer Architekturhistoriker. Aufgrund seiner geschwungenen Form wirkt das Chilehaus trotz seiner Größe leicht und anmutig.
Lebendiges Muster und allegorische Figuren
Die Fassaden wurden zur optischen Betonung mit Lisenen verziert. Dabei handelt es sich um senkrechte Streifen zwischen den Fenstern, die aus dem Mauerwerk hervortreten. Sie bestehen aus jeweils zwei Ziegeln, die im Winkel von 45 Grad gemauert sind; jede siebte Lage ist gerade mit der Mauer verankert. Diese filigrane Rhythmik schafft ein lebendiges Muster, deren Ästhetik sich aus der Fußgängerperspektive erschließt. Je nach Wetter und Licht funkelt die Fassade anders. Das Chilehaus zu umrunden und zu betrachten, wird zu einem Erlebnis.
In muschelartigen Nischen und Bögen des Gebäudes tummeln sich Keramikfiguren des Bildhauers Richard Kuöhl. Neben Eulen, stilisierten Brunnen und Karavellen sind auch ein südamerikanischer Storchenvogel, Chilepelikane, ein Humboldt-Pinguin und über dem Portal A das Chile-Wappen mit dem Andenhirsch Huemul und Kondor zu sehen. Ein Flötenspieler mit Lendenschurz aus Blättern verweist auf die indigene Bevölkerung Chiles. Weitere allegorische Figuren sind zwei spielende Bären, Nixe und Fischermann im Netz, zwei Kapuzineraffen im Baum, ein Kind mit Beckenschalen, ein Lamm mit Wollkorb und eine Hansekogge mit zwei Segeln, darauf der Stab des Merkur und das Hamburg-Wappen.
Handel und Wandel
Angesichts dieser charmanten Details und der geschwungenen Fassade sei das Chilehaus mehr als nur ein Arbeitsplatz, schreibt die Union Investment Real Estate GmbH, heutige Besitzerin des Gebäudes. Doch die imposante Komposition aus Ziegelsteinen war auch immer ein Zweckgebäude. Der Historiker und Autor Michael Batz widmet sich in seinem Buch den Unternehmen, deren Namen auf den Tafeln in den Eingängen standen. Auf ihnen ist die Mietbelegung verzeichnet. Exporteure, Importeure, Schiffs- und Versicherungsmakler, Kaufleute im Kohlen-, Mineralöl-, Textil-, Tabak- und Getreidegroßhandel kamen und gingen. Namenszüge wurden entfernt und durch neue ersetzt.
Mit «Chilehausstory» ist Michael Batz eine facettenreiche Reise gelungen: Sie beginnt in Hamburgs Altstadt und führt zum modernen Kontorhausviertel, macht einen Abstecher zu den Salpeterminen Chiles und begibt sich in das Chilehaus hinein zu den drei Paternostern, den alten Personenaufzügen, die wie Wasserräder die Besucher, Kunden und Geschäftspartner zu den Büros transportierten. Ganz besonders besticht das Buch durch seine Fotos: Aufnahmen von der Konstruktion des Chilehauses, Straßenszenen aus dem Altstadtquartier sowie den Flying P-Linern, den schnittigen Segelschiffen, die zwischen den chilenischen Häfen und Hamburg fuhren.