Suche nach sagenumwobenem Rungholt
Der Name Rungholt beflügelt seit Jahrhunderten die Fantasie. Eine verheerende Sturmflut riss den Handelsort einst in die Nordsee. Die Suche nach Spuren im Watt ist spannend.
Nordstrand (dpa) – Das Auge sieht nichts als Watt. Doch nur einen halben Meter unter der Oberfläche haben Forschende vor Nordstrand die Umrisse der hochmittelalterlichen Kirche des sagenumwobenen, in der Nordsee untergegangenen Rungholt lokalisiert.
Gut ein Jahr nach ihrer Entdeckung arbeiten sie an diesem Frühlingstag erneut im Watt nahe Hallig Südfall – bis 2025 sollen die Arbeiten dauern. Wie groß das mittelalterliche Gotteshaus gewesen ist, wird anschaulich, als sich das aus knapp 20 Männern und Frauen bestehende Team entlang der Umrisse positioniert. Das Gotteshaus maß 40 mal 15 Meter und bot vielen Gläubigen Platz.
«Eingefrorene mittelalterliche Kulturlandschaft»
Archäologe Bente Sven Majch-czack vom Exzellenzcluster Roots der Kieler Christian-Albrechts-Universität begutachtet einen kleinen Schacht, den Kollegen am einen Ende der Kirche gegraben haben. Das Watt ist für die Wissenschaftler vor allem wegen seiner Erhaltungsbedingungen interessant. «Wir sehen hier einen Ausschnitt von einer mittelalterlichen Kulturlandschaft, die sozusagen eingefroren ist und später nicht mehr überprägt wurde», sagt Majchczack.
Rungholt war im ausgehenden Mittelalter eine Siedlung im schleswig-holsteinischen Wattenmeer nahe Nordstrand und der Hallig Südfall. Der Handelsplatz fiel 1362 einer verheerenden Sturmflut zum Opfer, der «Groten Mandränke». Sie gilt als Geburtsstunde Nordfrieslands in seiner heutigen Form.
Die Sturmflut trennte Halbinseln vom Festland und verpasste der damaligen Insel Strand einen Keil. Die wurde dann 1634 bei einer weiteren schweren Flut endgültig zerschlagen. «Seitdem gibt es dort die Insel Pellworm, die heutige Halbinsel Nordstrand und die Hallig Nordstrandischmoor», sagt Majchczack. Das seien mehr oder weniger Überbleibsel der einstigen Insel Strand. Der Rest sei heute Wattenmeer.
Die Forschungsarbeit ist ein Gemeinschaftsprojekt des Archäologischen Landesamts, des Zentrums für Baltische und Skandinavische Archäologie sowie der Kieler und der Mainzer Universität. Das Team untersucht ein mehr als zehn Quadratkilometer großes Areal im Watt. Seit dem vergangenen Jahr wurden dort mit Hilfe geophysikalischer Messungen Dutzende mittelalterliche Wohnhügel gefunden, sogenannte Warften. Warften existieren noch heute auf Halligen. Aber auch systematische Entwässerungssysteme, ein Deich und ein Hafen wurden entdeckt.
1.000 Menschen in mehreren Dörfern
Wenige Meter neben dem Archäologen greift seine Kollegin Ruth Blankenfeldt vom Leibniz Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie zur Schaufel. «Wir haben inzwischen lange Warftketten gefunden, also diese künstlich aufgeschütteten Wohnhügel, auf denen man gewohnt hat», sagt die Archäologin.
Doch wie groß war der sagenumwobene Ort wirklich? In dem Bereich des Watts wurden auch Gegenstände aus der Ferne gefunden, kleine Gewichte und Wagen. «Das heißt, hier wurde Handel betrieben. Wir bekommen allmählich eine Idee von der Dimension», stellt die Forscherin fest.
Ihr Kollege Majchczack sagt, dass es sich um Wohnhügel in einer Moorlandschaft gehandelt hat. «Sie haben ganze Dörfer auf dieses Moor gebaut in Reihen und von dort aus systematisch die Landschaft erschlossen. Das Moor wurde abgetragen, entwässert und eine landwirtschaftliche Nutzfläche daraus gemacht.»
Bisherige Funde legten die Vermutung nahe, dass dort schätzungsweise rund 1.000 Menschen lebten und es ein Handelsplatz war. Die Kirche war der Mittelpunkt des Siedlungsgefüges vor Nordstrand. Das Forschungsteam geht aufgrund ihrer Größe davon aus, dass es sich um ein damaliges Kirchspiel mit übergeordneter Funktion handeln muss, das mit dem bei der Sturmflut von 1362 zerstörten Verwaltungsbezirk Edomsharde in Verbindung gebracht wird. Auch der später mythologisch überhöhte Ort Rungholt gehörte nach ihren Erkenntnissen dazu. Das erst im Mai lokalisierte Gebäude war demnach eine Hauptkirche der Edomsharde.
«Schrittweiser Rückzug»
Die Marcellusflut von 1362 markierte das Nutzungsende der im 12. Jahrhundert gebauten romanischen Kirche. «Wir kennen das ganz genau von späteren Sturmfluten. Solche Sachen sind immer eine schrittweise Aufgabe, ein schrittweiser Rückzug», sagt Majchczack. «Die eine Sturmflut, die durchbricht dann vielleicht die Deiche, es kommt zu schweren Überschwemmungen, viele, viele Menschen sterben und dann kommt der Tag danach.»
In manchen Bereichen sei es den Rungholtern gelungen, Deichlücken nach der verheerenden Flut wieder zu schließen, in anderen jedoch nicht. «Wir haben gute Indikatoren, dass dieser Bereich, wo wir gerade sind, damals schon unter dem Meeresspiegel lag.»
«Ein vollständiges Bild»
Bei den Arbeiten gehe es darum, trotz nur wenig verbliebenem Material noch ein vollständiges Bild von der Siedlungslandschaft zu bekommen, sagt der Geophysiker Dennis Wilken von der Uni Kiel. «Man kratzt hier die letzten Informationen aus dem Boden, die man noch haben kann – im wahrsten Sinne des Wortes.»
In Sichtweite nimmt ein Team um die Geophysikerin Sarah Bäumler geophysikalische Untersuchungen vor. Im Abstand von 20 Metern ziehen zwei Studentinnen eine Apparatur durch den Schlick. Sie erfasst und stellt ganze Siedlungen komplett dar – ganz ohne Grabung. «Wir sehen in unseren Messbildern die Warften, die Wege, die ganzen Entwässerungsgräben, also die Feldfluren und die Dörfer, wie die Landschaft strukturiert ist», sagt Majchczack. «Dadurch kriegen wir jetzt ein vollständiges Bild.»
Seit 2017 wiesen Forschende bereits 73 Warften, systematische Entwässerungssysteme, einen Seedeich mit Sielhafen und neben der großen Hauptkirche auch zwei kleinere nach. Das heutige Watt war damals großflächig dicht besiedelt», sagt Archäologin Blankenfeldt.
Für ihren Kollegen Majchczack ist die untergegangene Siedlung aus dem Wattenmeer auch eine Mahnung. «Wenn man hier lebt in dieser Landschaft, dann muss man sich wirklich darum kümmern, dass hier alles passt mit dem Meer, mit dem Sturm und den Gezeiten. Das Problem ist ja heute das Gleiche wie vor 800 Jahren.»