Musiklehrerin und Geschichtsforscherin
Wenn das Steckenpferd zum Beruf wird
Rosmarie Thomsen hat bisher verschiedene Themen zur Fortentwicklung der chilenisch-deutschen Gemeinschaft erforscht. Ihre Chronik über den Werdegang der Erlösergemeinde ist ein Standardwerk zur Geschichte der evangelischen Kirche in Chile.
Gegenwärtig befasst sie sich mit der deutschen Gemeinschaft der Stadt Osorno im 19. Jahrhundert, ab der Ankunft der ersten deutschen Einwanderer. Ein besonderes Augenmerk wirft sie hierbei auf deren damalige Tätigkeiten. Über Osorno hielt sie unlängst einen Vortrag, wobei sie den Akzent auf die chilenisch-deutschen Institutionen setzte. «Jetzt erweitere ich es auf den familiären und beruflichen Teil ihrer Tätigkeit», präzisiert sie. «Es wurde bisher angenommen, dass alle Osorniner aus Deutschland Bauern waren und sich auf dem Land niedergelassen haben. Dem ist aber nicht so», fährt sie fort, «denn in den ersten Jahren gingen sie ihren ursprünglichen Berufen nach». Die meisten waren Handwerker, die ihr Gewerbe ausüben wollten. Wo sie sich niedergelassen und welche Betriebe sie gegründet haben, ist gegenwärtig nicht einfach herauszufinden, hat sie feststellen müssen, «weil es darüber nur wenige Informationen und kaum Fotografien gibt».
Rosmarie Thomsen beabsichtigt, ihre Forschungsergebnisse als Buch herauszugeben. Bisher hat noch niemand eine Übersicht über diese Thematik veröffentlicht, weshalb sie das Projekt mit großem Enthusiasmus angeht: «Verschiedene Personen haben mich darauf angesprochen, dass der Stoff hochinteressant und bisher nirgendwo aufgeschrieben worden sei.» Einzelheiten seien zwar zu finden, aber ein Gesamtüberblick über die Geschehnisse des 19. Jahrhunderts in Osorno gäbe es nicht, stellt sie klar. «Ich weiß zwar nicht, ob es gelingen wird», wirft sie ein, «aber das ist es, was ich gerne tun würde.»
Die ersten Deutschen – es waren neun Familien – trafen in der Nähe von La Unión gegen Ende der 1840er Jahre ein. «Jörg Aubel und zwei weitere Familien gingen von dort aus nach Osorno», womit die deutsche Besiedelung dieses Orts ihren Anfang nahm: «Sie veränderten die Stadt, in der es keine Arbeitsmöglichkeiten gab, grundlegend.» Später kamen ein Bruder Aubels und weitere Familien hinzu, die die Entwicklung Osornos förderten. So kam es, dass die erste Deutsche Schule und die erste Evangelische Kirche im Land in Osorno gegründet wurden. «Nicht einmal in Valparaíso, wo damals zahlreiche Deutsche lebten, gab es eine evangelische Kirche, weil diese den anglikanischen Gottesdienst besuchten», sagt sie, «und auch in Santiago gab es noch keine deutsche evangelische Gemeinde».
Rosmarie Thomsen ist in Osorno geboren. Ihr Großvater wanderte Ende des 19. Jahrhunderts in Valparaíso ein. Der Vater wurde in der Hafenstadt geboren und ging später aus beruflichen Gründen nach Osorno, wo er ihre Mutter kennenlernte, die aus Puerto Montt stammte. Rosmarie besuchte die Deutsche Schule Osorno, ging dann zum Studium an die Universidad Austral in Valdivia und wurde Musiklehrerin.
Da sie bereits als kleines Mädchen Ballettunterricht gehabt hatte, machte sie nach Beendigung ihres pädagogischen Studiums eine Ausbildung zur Tänzerin: «Daraufhin habe ich noch einige Jahre getanzt, allerdings nicht berufsmäßig und danach Instrumentenbau studiert.» Diese seltene Berufsrichtung erlernte sie in Valdivia mit Humberto Águila, wobei sie sich bevorzugt der Herstellung von Geigen und Gitarren widmete. Rosmarie Thomsen stellte mehrere Gitarren her und reparierte auch eine Zeit lang Musikinstrumente.
Die Tonkunst hat in Rosmarie Thomsens Leben eine bedeutsame Rolle gespielt. Sie war kaum vier, als die Mutter sie bei der Ballettakademie anmeldete. Das Mädchen war von Anfang an eine begeisterte Tänzerin und bekam bereits im ersten Jahr eine Hauptpartie in einem Tschaikowski-Werk zugeteilt. Noch heute schaltet sie morgens beim Aufstehen das Radio an, um Klassik zu hören, «und es bleibt den ganzen Tag an», lacht sie, und fügt voller Überzeugung hinzu: «Ich glaube, ich könnte ohne Musik nicht leben. Für mich ist sie von grundlegender Bedeutung.» So kam es, dass sie vierzig Jahre lang als Musiklehrerin tätig war, zunächst am Liceo Comercial Valdivia und danach an der Deutschen Schule Osorno.
Über das Unterrichten ihres Lieblingsfachs kam sie zur Geschichtsforschung: «Wenn ich über Mozart oder Beethoven spreche, muss ich sie in ihrem historischen Kontext zitieren. Deshalb interessierte ich mich immer dafür, was in den verschiedenen Epochen geschah.» Als die Schule die Feierlichkeiten zu ihrem 150-jährigen Bestehen vorbereitete, recherchierte Rosmarie Thomsen Daten zu ihrer Entstehung. Diese Forschungsarbeit hatte ihr erstes Buch zur Folge, in dem sie die Geschichte und Entwicklung der ersten Deutschen Schule des Landes beschreibt.
Weitere Publikationen folgten, in denen stets Geschichtsthemen im Mittelpunkt stehen. Ihr vorerst letztes Buch ist «130 años construyendo sueños – Historia de la comunidad ‚El Redentor‘», eine über 170-seitige, reich illustrierte Chronik der Santiaguiner Erlösergemeinde. Die Autorin musste gründlich nachforschen, was durchaus nicht einfach war. So war zum Beispiel von dem ersten Kirchengebäude, der sogenannten «Christuskapelle», ein Foto zu finden. «Das hat mich enttäuscht, denn die Gemeinde kam dort 30 Jahre zusammen», konstatiert sie. Auch das Einsehen der Protokolle war zum Teil mühsam, «weil einige Pfarrer nicht eine besonders klare Schrift hatten», lacht sie. Zum anderen sind Dokumente zu Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Todesfällen samt und sonders erhalten, und «man hat mir mit der Vermittlung von zahlreichen Fotos sehr geholfen», hebt sie dankbar hervor.
Zudem ist sie glücklich darüber, dass sie «das tun kann, was mir Spaß macht. Ich bin dazu nicht verpflichtet, ich mache es, weil es mir gefällt und weil ich Interesse daran habe, und wenn jemand es gerne annimmt, dann ist es gut so.»
Foto: privat