Ein neuer Kulturkampf innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft

Zur Person
Professor Burkhard Müller-Using lebt seit 2003 in Chile. Nach einer Gastprofessur an der
Universidad Austral lehrte der Fortwissenschaftler 15 Jahre lang an der Universidad de
Concepción.
Während es in Chile zwar immer wieder Anzeichen von «Wokeness», das heißt von einer sensiblen Wachsamkeit gegenüber gewollten oder versehentlichen Verletzungen der Rechte spezieller Minderheiten, gibt, ist in den USA und zunehmend auch in Deutschland ein kultureller Spaltungsprozess im Gange. Dieser hat an manchen Schulen und besonders an Universitäten schon fast die Dimensionen eines Kulturkampfes angenommen.
Auf der einen Seite gibt es die Verfechter der in der europäischen Aufklärung entwickelten Existenz universaler Menschenrechte, die weltweite Geltung für sich beanspruchen und deren Verwirklichung oberste Leitplanke der Politik sein muss. Sie sind auch Anhänger der aus dem Marxismus stammenden Einteilung der Gesellschaft in die sozial herrschende Arbeitgeber- und die unterprivilegierte Arbeitnehmerschicht, sie rechtfertigen den Neoliberalismus mit den Fortschritten, die wir in Sachen Chancengleichheit erreicht haben, und wenn sie von Entwicklungshilfe reden, meinen sie, dass es ein Gebot der Ethik ist, die Empfänger an unserem technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben zu lassen.
Vom «wachsamen» Bewusstsein zur Intoleranz
Dies alles wird von der Wokeness-Bewegung nicht nur hinterfragt, sondern in Büchern, Zeitschriften bis hin zu Pamphleten heftig bekämpft. Dabei gelten als Feindfiguren die «alten weißen Männer» der Nordhalbkugel, die aus ihrem Macht- und Bildungsprivileg heraus dem vielfältigen Spektrum von Verfechtern individueller Rechte ihre Doktrinen überstülpen und sie damit leichter beherrschbar machen wollen, ohne bereit und in der Lage zu sein, die Identitätsrechte der entsprechenden Minderheiten angemessen bewerten zu können beziehungsweise zu wollen.
Das lässt sich am Beispiel der Feminismus-Bewegung festmachen. Man denke nur an die Genderforderungen im Bereich der Sprache, die von den «Universalisten» weitgehend abgelehnt werden, ebenso an die umweltpolitischen Aktionen der jungen Kämpferinnen und Kämpfer von Friday for Future oder die Thesen, die von den entsprechenden Aktivisten für sexuelle Selbstbestimmung vorgetragen werden.
Andererseits hat der ursprüngliche Kampf der Wokeness-Aktivisten gegen die Missachtung von Individualitätsrechten sehr bald zu einer ausgeprägten eigenen Intoleranz gegenüber Andersdenkenden geführt, die manchmal haarsträubende Dimensionen annimmt: Weißen Wissenschaftlern wird das Recht auf Forschung zum Thema Kolonialismus aberkannt. Nobelpreisträger sollen ihre Preise zurückgeben, wenn sie vor 50 Jahren einmal einen Ausspruch getan haben, der heute nicht mehr im moralischen Mainstream liegt, Politiker sollen sich wegen «kultureller Aneignung» entschuldigen, weil sie als weiße Studenten im Indianerkostüm auf einem Fasching gewesen sind, und selbst dem schwarzen Menschenrechtskämpfer Martin Luther King wird vorgeworfen, er hätte den weißen Verfechtern einer Appeasement-Politik in die Hände gespielt, statt wirkliche Fortschritte für die gesellschaftliche Situation der Afroamerikaner erzielt zu haben.
Minderheitenrechte und neuer Moralismus
Immerhin: Wenn man sich die Outputs der Parlamente in den westlichen Ländern anschaut, hat sich die Verabschiedung von Gesetzen, die die Individualrechte von Minderheiten betreffen, in den letzten Jahren gehäuft, während man sich mit großen, wegweisenden gesetzlichen Weichenstellungen zunehmend schwerer tut. Das geht zum Beispiel in Deutschland Hand in Hand mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft. Da gibt es nicht mehr die beiden großen Volksparteien und, entsprechend auch nur noch Regierungen, die durch Koalition mehrerer Parteien zum Zweck der Mehrheitsbildung zustande kommen, ein Prozess, der auch in Chile im Gange ist. Aus der größeren Solidargemeinschaft der Bürger in Bezug auf eine Grundwerteskala wird ein Flickenteppich individueller Forderungen und für die Politiker ein stärkerer Druck, es allen recht machen zu müssen.
Die Medien befördern eine Art moralischen Mainstream, die Apostel der verschiedenen Individualitätsrechte sehen sich als Bekenner und erheben den Anspruch, die Guten zu sein, während die anderen die Bösen sind. So wird das Spektrum der Meinungsfreiheit enger, die «Bösen» wagen nicht mehr den Mund aufzumachen, weil sie gemobbt werden und – potenziert durch die privaten Netze – wird Hass zunehmend gesellschaftsfähig.
Extreme Parteien gegen Wokenessbewegung
So verständlich und im Prinzip berechtigt die vielfältigen Minderheitenwünsche für sich betrachtet auch sind, so müssen sie dann an die zweite Stelle rücken, wenn die Bedürfnisse einer großen Mehrheit unabweisbar sind und in eine andere Richtung weisen. Dieses Problem spiegelt sich in der deutschen Gesellschaft und entsprechend in der Parteienlandschaft wider. Auf der einen Seite die Partei «Die Linke», die sich heute eher aus intellektuellen Großstädtern rekrutiert, weite Teile der Sozialdemoraten, denen das Eintreten für alle Unterprivilegierten ins politische Erbgut geschrieben ist, und die Parteibasis der Grünen; auf der anderen Seite Mitte-Rechts, also Christdemokraten und Liberale.
Aber interessanterweise gibt es sowohl ganz rechts als auch auf der linken Seite je eine Partei, die Gegner der Wokenessbewegung sind: Die AfD am rechten Rand fängt die ernstzunehmenden Sorgen einer breiten Bevölkerungsschicht hinsichtlich der Migrationsprobleme, der Friedensbedrohung und der abnehmenden vor allem außenpolitischen Bewegungsspielräume durch die Europäische Union auf, und das linksdefinierte Bündnis Sarah Wagenknecht wirft den Individualitätspolitikern vor, völlig abgehoben von den existenziellen Bedürfnissen der Millionen Geringverdiener, ihre Aktivitäten auf gesellschaftlichen Nebenkriegsschauplätzen auszuleben, statt die dringenden Probleme des Mangels an bezahlbarem Wohnraum, eines zu geringen Mindestlohns, und der partiellen Kinder- sowie Altersarmut in Angriff zu nehmen. Im Übrigen ist das Bündnis pazifistisch und europakritisch eingestellt, was ihm den Vorwurf der etablierten Parteien einträgt, mit den Ultrarechten gemeinsame Sache zu machen.
So wird der Wokenessbewegung heute von ihren philosophischen Kritikern vorgeworfen, einer größeren Gesamtgerechtigkeit einen Bärendienst zu erweisen, weil sie de facto zu einer größeren Spaltung und damit Schwächung unserer Demokratien nach innen und nach außen führt. Auf der anderen Seite lässt sich nicht bestreiten, dass ihre «wachsame Empfindsamkeit» manchen Fortschritt im Bereich eines moralisch gebotenen Minderheitenschutzes gebracht hat.