Kampf um eine Kabine, plötzliche Abfahrt und Wirren auf dem Schiff
In Oldenzaal gab es zum ersten Mal markenfreies Essen, herrliche Sandwiches und Kuchen mit «Schlagroom», wie die Holländer sagen. Mäuschen traute ihren Augen kaum, und wir beide taten uns nach all den Strapazen ordentlich etwas Gutes. Doch es war gefährlich, man bekam leicht Magenschmerzen, weil man an fettes Essen nicht mehr gewöhnt war.
Freundliche Begrüßung in Amsterdam
Gegen Abend bestiegen wir den sauberen und schön geheizten holländischen Zug, der uns von Oldenzaal über Ammersfoort nach Amsterdam brachte, wo wir spätnachts eintrafen. Wir ließen den größten Teil des Gepäcks im Aufbewahrungsraum vom Bahnhof und gingen zu Fuß durch die Hauptstraße Damraak zu dem sehr sympathischen Familienhotel Van Geldern, wo die gute Frau De Vries uns erwartete.
Sie hatte mir schon unendlich viele Gefälligkeiten erwiesen, ohne mich zu kennen: Unter einer Deckadresse gingen Briefe an Vater zu ihr und dann weiter nach Chile.
Sie hatte uns ein Zimmer reserviert. Wäre das nicht geschehen, hätten wir, wie viele deutsche Mitreisende, wegen des Hasses auf die Deutschen, in Amsterdam nirgends eine Unterkunft gefunden. Nach echt holländischer Sitte erhielten wir ein Riesenbett für uns beide.
Zu wenige Plätze für zu viele Passagiere
Am nächsten Tage gab es furchtbare Aufregungen und viel Ärger. Zunächst ging ich zum holländischen Lloyd, wo es von deutschen Passagieren, die mit der «Gelria» reisen wollten, wimmelte. Die Schifffahrtsgesellschaft hatte geglaubt, die Deutschen könnten wegen der Eisenbahnsperre ja doch nicht rechtzeitig Amsterdam erreichen, und so hatten sie diese Passagen anderen Interessenten gegeben, denn es gab in jener Zeit eine große Nachfrage nach Schiffspassagen, da deutsche Passagierschiffe nicht mehr fuhren. So machte der holländische Lloyd glänzende Geschäfte.
Die deutschen Passagiere für die «Gelria» waren aber merkwürdigerweise trotz der Eisenbahnsperre alle zur Stelle. Viele waren ähnlich wie wir gereist, andere mit dem Rheindampfer, manche sogar per Auto und einige per Flugzeug. Im Büro der Gesellschaft war nun natürlich ein Tohuwabohu und wahnsinniges Durcheinander, denn wer Passagen für die «Gelria» hatte, bestand auf seinem Recht, mitfahren zu dürfen.
Stundenlang stand ich im schlimmsten Menschengewühl. Als ich an die Reihe kam, verlangten sie, um mich loszuwerden, noch ein Gesundheitsattest von einem holländischen Arzt – das vom deutschen Arzt gelte nichts. Ich beschaffte es in fliegender Hast, zeigte ihnen auch das Telegramm, in dem die Gesellschaft mich aufgefordert hatte, doch abzureisen. Alles half nichts!
Nach stundenlangem Stehen, inzwischen war es Nacht geworden, gab man mir den Bescheid, man würde uns gnädigst eine Passage im Zwischendeck geben, wo portugiesische Abenteurer zusammengepfercht waren. Das kam natürlich nicht in Frage.
Herr De Vries setzt sich ein
So bat ich Herrn De Vries, der uns Beistand leistete und auch holländisches Geld geliehen hatte, weil wir noch allerhand einkaufen mussten, uns zu helfen. Als die Leute auch auf seine Proteste auf Holländisch nicht hörten, vertröstete uns Herr De Vries auf den nächsten Tag, den Abfahrtstag. Da würde er persönlich mit dem Direktor der Gesellschaft, der mit seiner Frau verwandt war, sprechen und es durchsetzen, dass wir die uns zustehenden Plätze bekämen.
Am letzten Nachmittag zeigte er uns noch die interessanten «Grachten», und wir fuhren mit der Trambahn etwas außerhalb der Stadt, wo Neubauten entstanden. Da sahen wir, wie mit riesigen Maschinen enorme Pfähle für die Fundamente eingerammt wurden.
Am nächsten Tage ging der Kampf wieder los: Wie Detektive verfolgten wir den Direktor, den Herr De Vries endlich entdeckte. Mäuschen ging mit unserem Handgepäck an Bord. Die «Geldria» lag direkt an Land, und dort blieb ich auch noch, um das Ergebnis von Herrn De Vries Unterredung abzuwarten. Plötzlich sah ich, wie die Laufbretter zwischen Schiff und Land weggezogen wurden, und da raste ich im letzten Augenblick schnell noch über das letzte Brett, sodass die Matrosen mir zuriefen: «Nu wards ook de högste Tid» («Das war auch höchste Zeit»). Das Schiff setzte sich langsam in Bewegung, ohne zu tuten, und Herr de Vries rief mir von Land laut brüllend zu: «Die Herren von der Schiffsleitung sind noch bis Ijmuden an Bord! Die wissen Bescheid, laufen sie hinter ihnen her und verlangen sie ihre Kabine!»
Das war mein Abschied von Amsterdam und dem guten Herrn De Vries, dessen reizende Frau eine Kusine von Frau Else Schneider aus Valparaíso war, die Vater und ich nach unserer Ankunft in Valparaíso sofort besuchten.
An Bord
Ich bat Mäuschen bei den Sachen zu bleiben, während ich hinter den Herren herlief, die von der Schiffsleitung waren. Sie saßen in der ersten Klasse beim opulenten Mittagessen. Das war mir ganz egal. Ich trug mein Anliegen vor, und man verwies mich an den Obersteward, der ganz aufgeregt mit seiner großen Passagierliste umherlief und auch nicht wusste, wie er die Leute unterbringen sollte. Ich ließ aber nicht locker und so wurde mir eine scheußliche, muffige Innenkabine zugewiesen.
An der Türe standen drei Namen angeschlagen: der Name einer holländischen Frau, dann Mr. und Mrs Becker. Wie sollte ich eine Kabine beziehen, wo auch ein Mister Becker übernachtete? Schließlich öffnete ich die Tür, und da saß auf dem oberen Bett mit baumelnden Beinen ein etwa zehnjähriger Junge. Gott sei Dank, das war der gefürchtete Mister Becker!
Die Kabine war so klein, dass man kein Gepäck hineinbringen konnte. Die junge, dicke holländische Frau schimpfte, weil sie auf der Hochzeitsreise ohne ihren Mann in der Kabine war, denn man hatte Männlein und Weiblein getrennt untergebracht. Und der junge Ehemann belästigte uns jeden Morgen ganz früh, um seine Frau zum gemeinsamen Bad abzuholen. Mäuschen bekam mit mehreren jungen Mädchen eine große, luftige Kabine, aber im «Intermediario», zwischen zweiter Klasse und Zwischendeck. Aber sie war zufrieden und hielt sich natürlich immer in der zweiten Klasse auf.
Ich fand dann noch im Gange eine alte Dame ganz aufgelöst in Tränen. Sie nannte sich stolz Freiin von Velten, war aber nur ein angenommenes Kind von den Veltens. Sie hatte noch keine Kabine. Ich sorgte dafür, dass der Hoffmeester sie berücksichtigte. Sie war übrigens die Mutter von Frau Weinreich und liegt jetzt begraben auf dem Kirchhof in Playa Ancha, mit der Freiherrenkrone auf dem Grabstein.
Fortsetzung folgt