Der «Vater» der Jugendherbergen
Richard Schirrmann verlegte seinen Unterricht am liebsten nach draußen: Nach und nach entwickelte der Lehrer das Konzept der «wandernden Schulen». Aus seiner Idee, für Schülergruppen auf mehrtägigen Wanderungen ein Netz von Herbergen zu schaffen, erwuchs die Idee der Jugendherbergen.
Richard Ernst Otto Schirrmann ist am 15. Mai 1874 in Grunenfeld (heutiges Gronovko in Polen) bei Braunsberg im Kreis Heiligenbeil in Ostpreußen als ältestes von sechs Kindern des Grundschullehrers August Schirrmann und dessen Frau Johanna Berta geboren. Mit 15 Jahren war ihm bereits klar, welchen Beruf er einmal ausüben wollte, nämlich den des Lehrers, wie bereits sein Vater und Großvater. Nach eineinhalb Jahren in der Präparandenanstalt in Friedrichshof bei Ortelsburg besuchte er von 1891 bis 1894 das Lehrerseminar Waldau bei Königsberg. Aufgrund der Teilnahme an einem Protest der Seminaristen gegen Gängeleien im Internat wurde Richard Schirrmann entlassen.
Lernen unter freiem Himmel
Ohne Abschluss arbeitete Schirrmann zunächst als Privatlehrer auf dem Großgut Drebenau bei Galtgraben im Samland, wo er zehn Kinder unterrichtete. Sein Unterricht fand bereits im Freien auf Wanderungen oder bei Fahrten mit dem Kutschwagen statt. Im Februar 1895 legte er sein erstes Lehrerexamen am Lehrerseminar in Karalene ab.
Als er nach Gelsenkirchen ins Ruhrgebiet versetzt wurde, sah er den Unterricht in der freien Natur auch für die gesundheitliche und seelische Entwicklung der Schüler, angesichts des «Kindeselends im Industriegebiet», als wichtig an.
Schirrmanns Einsatz für eine «Frischluft- und Freiluftschule» stieß auf den Widerstand der Schulleitung und der Schulbehörde. 1905 wurde er an die Nette-Schule in Altena im Sauerland strafversetzt, wo er bis 1922 lehrte.
Die Idee der Jugendherbergen
Das Konzept eines anschaulichen Unterrichts konkretisierte der Pädagoge auf Wanderungen und Fahrten mit den Schülern. Er stellte sich vor, dass die Herbergen für die wandernde Jugend auch Begegnungsstätten für junge Menschen und Orte der Völkerverständigung sein sollten.
Schirmann selbst trat 1905 als Mitglied in den «Sauerländischen Gebirgsverein» ein, wo er sich mit dem Fabrikanten Wilhelm Münker befreundete. 1909 lernte er Prof. Dr. Burghart Schomburg kennen, der in Lüdenscheid als Lehrer für Deutsch, Englisch und Französisch tätig war und eine Wandervogelgruppe gegründet hatte.
1907 richtete Schirrmann die erste provisorische Herberge für eine Wandergruppe von Berufsschülern im Lehrmittelraum der Nette-Schule in Altena ein, die den Grundstein für das Jugendherbergswesen in Deutschland bildete. Dort sollten Volksschüler und Mädchen Aufnahme finden, mussten jedoch auf Alkohol und Tabak verzichten.
Die Idee eines Deutschen Jugendherbergswerks kam ihm in einer Gewitternacht im Schulhaus in Bröl im Bröltal am 26. August 1909 während einer achttägigen Wanderung mit seiner Schulklasse von Altena nach Aachen. Es folgten erste Werbeaufrufe, um ein flächendeckendes Netz von Jugendherbergen zu schaffen, die nur einen Wandertag voneinander entfernt liegen und Jugendliche preisgünstig unterbringen und versorgen sollten.
1910 gewann Schirrmann Wilhelm Münker und Burghart Schomburg für seine Idee zur Gründung von «Schülerherbergen» und machte beim Magistrat der Stadt Altena den Vorschlag, in der Burg Altena eine ständige Jugendherberge zu betreiben, die dann 1912 als erste ständige Jugendherberge der Welt eröffnet wurde. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs entstanden in Deutschland 372 Jugendherbergen.
Münker stellte 1919 sein ganzes Vermögen in den Dienst der Jugend und wurde ehrenamtlicher Hauptgeschäftsführer des Deutschen Jugendherbergswerkes; Schirrmann wurde der Vorsitzende. Nachdem Schirmann 1922 vom Schuldienst beurlaubt wurde, widmete er sich ganz dem Ausbau der Jugendherbergsbewegung und bereiste ganz Deutschland und Europa zu Werbeveranstaltungen.
1925 gründete er auf dem Truppenübungsplatz in Senne bei Paderborn das Kinderdorf «Stahlmühle» in ehemaligen Militärbaracken. Sein Traum war es, auf der ganzen Welt ehemalige Truppenübungsplätze in Kinderdörfer und Freiluftschulen umzuwandeln und sie «statt mit Soldaten mit Millionen froher, gesunder Kinder» zu füllen. 1932 wurde Schirrmann Mitbegründer und Präsident der in Amsterdam gegründeten «International Youth Hostel Federation» (IYHF). Diese nennt sich seit 2006 «Hostelling International».
Schwierige Zeiten unter dem NS-Regime
Mit der neuen nationalsozialistischen Regierung 1933 übernahm der «Reichsjugendführer» Baldur Benedikt von Schirach das DJH-Werk und Schirrmann und Münker mussten ihre Posten im Jugendherbergswerk aufgeben. Den mittlerweile 1.466 Herbergen wurde nun eine wichtige Rolle im System der nationalsozialistischen Jugenderziehung zugedacht.
Schirrmann blieb lediglich der Ehrenvorsitz. In dieser Eigenschaft widmete er sich dann der Werbung im Ausland für das Jugendherbergswesen, trat der Hitlerjugend bei, um sein Lebenswerk zu bewahren. 1936 wird Schirrmann wegen «schwerer Disziplinlosigkeit und HJ-schädigenden Verhaltens» aus der HJ ausgeschlossen. In einem kleinen Dorf im Taunus übersteht er die Nazi-Herrschaft.
Von 1948 an organisiert Richard Schirrmann den Wiederaufbau des deutschen Jugendherbergswerks und die Aussöhnung mit den europäischen Verbänden. Nicht zuletzt dank Schirrmanns Reputation kehrt die Bundesrepublik Deutschland 1950 als vollwertiges Mitglied in die «International Youth Hostel Federation» zurück. Als Ehrenbürger von Altena und geehrt mit dem Großen Bundesverdienstkreuz stirbt der Vater der Jugendherbergen 1961 im Alter von 87 Jahren.
Im Jahr 2022 gab es insgesamt rund 66.800 Betten in den insgesamt 408 Jugendherbergen des Deutschen Jugendherbergswerks in Deutschland. Rund zehn Millionen Übernachtungen werden in Deutschland jährlich gezählt und das Deutsche Jugendherbergswerk hat knapp zwei Millionen Mitglieder.
Quelle: Michael Buddrus, «Schirrmann, Richard», in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 13-15 (auch Online); www.jugendherberge.de.