Wie Federico von Martin aus Valdivia zum Unternehmer mit bahnbrechenden Ideen in der Wüste Tarapacá wurde.
Konnte sich der auf der Schulbank zwar nur mittelmäßige, dagegen im praktischen Leben technisch hochbegabte zehnjährige Schüler Justus Friedrich Wilhelm Martin vorstellen, was ihn erwartete, als er mit der Familie seines Vaters Friedrich Wilhelm Martin, dazu der Familie des Onkels und sogar der Großmutter am 15. August 1857 in Hamburg die Zweimast-Brigg «Reiherstieg» bestieg, um im fernen, unbekannten Chile Arbeit und Verdienst zu suchen?
Leicht schien es der Familie nicht gefallen zu sein, hinterließ sie doch in Göttingen eine bekannte Möbeltischlerwerkstatt, finanziell allerdings stark geschwächt durch gewagte Spekulationen eines gewissenlosen Bankiers, dem Vater Martin seine Ersparnisse anvertraut hatte. Bedingt sowohl dadurch als auch durch eine schlechte wirtschaftliche Lage des Handwerks in jenen Jahren, hatte sich der Vater entschlossen, seinen Besitz in Göttingen zu verkaufen und es in jener neuen Heimat im fernen Land am Pazifik zu versuchen
Aller Anfang ist schwer
Schon die 120 Tage währende Überfahrt gestaltete sich zu einem wahren Kampf ums Überleben. Noch in der Nordsee starb die Großmutter, die nicht allein in Göttingen zurückbleiben wollte. Auf der Höhe des Äquators brach eine Typhusepidemie aus, die viele Opfer forderte und erst nach Wochen überstanden war. Alsdann forderte die Umrundung des Kap Hoorn weitere Opfer, sie konnte erst nach sechs Wochen bewältigt werden. Als ob das alles nicht genug war, kam an Bord eine durch die lange Reise verursachte Lebensmittelknappheit hinzu. Endlich, so geschehen am 12. Dezember 1857, wurde Corral erreicht.
Die erste Zeit in der neuen Heimat war für die Familie hart. Friedrich musste in der Tischlerei des Vaters helfen, dazu besuchte er das «Liceo», erlernte die spanische Sprache, was damals in Valdivia nicht alltäglich war. Es war das Los vieler neuer Einwanderer: Missernten, fehlende Kontakte, Naturkatastrophen und Schiffsuntergänge führten zu Hungersnot und Krankheiten.
Mit sechzehn Jahren begann Friedrich eine kaufmännische Lehre, arbeitete für geringen Lohn in Handelshäusern in Valdivia, Osorno und Talcahuano, bis spät in der Nacht konnte man ihn dann noch beim Studium von Unterlagen und Geschäftsbüchern sehen. Keiner Arbeit ging er aus dem Weg, mied gesellschaftlichen, frohen Umgang mit Freunden und Kollegen, war dagegen glücklich, wenn er sich mit einem guten Buch zurückziehen konnte.
Friedrich Martin, jetzt Federico Martin, gerade 23 Jahre alt, hatte von dem aufkommenden Salpeterabbau in Iquique gehört, denn rasch hatte sich diese Nachricht an der Pazifikküste verbreitet. Allerdings, Iquique gehörte zu Peru und dieses wie auch die Horrorlegenden über die menschenfeindliche, unerbittliche Tarapacá-Wüste hielten in jenen Tagen so manchen Menschen von einer Reise in jene unwirtliche Gegend ab. Nicht dagegen Federico Martin, über Callao – denn wie gesagt, Iquique gehörte zu Peru – traf er im März 1870 in Iquique ein, wo ihm sogleich eine Stellung im Geschäft des Jorge Hilliger zum dreifachen Gehalt des in Valdivia und Talcahuano bezogenen angeboten wurde.
Iquique, die graue Stadt zwischen Ozean und Steilküste
Sofort stürzte sich Federico in die Arbeit. Nichts war ihm zu schwer, vor nichts schreckte er zurück. Jorge Hilliger belieferte mit seiner Firma Ceballos & Ugarte die Salpeterwerke sowohl mit Kohle, Lebensmitteln und alldem, was sonst noch gebraucht wurde, als auch mit ganzen Maschinenanlagen aus England und Deutschland. Er bekleidete zudem den Posten eines preußischen Konsuls.
Es gab viel zu tun, vieles war Federico Martin fremd, besonders das Ent- und Beladen der Schiffe, der Umgang mit den kleinen und großen Salpeterleuten, der Verkehr mit Arbeitern einer unbekannten Mentalität. Seine Arbeitszeit begann morgens gegen sieben Uhr und endete nicht vor elf Uhr nachts, Sonn- und Feiertage kannte er nicht. Er sah sich sogar gezwungen, eine Magenkrankheit zu überstehen, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen.
Trotz gelegentlicher, erregter Ausbrüche seines Chefs Jorge Hilliger gestaltete sich das Verhältnis der beiden untereinander auf beste Weise, sodass Federico Martin recht bald mit der Verwaltung der Salpeter-Oficina Paposo betraut wurde. Jorge Hilliger hatte sie aus einer anstehenden Insolvenz übernommen. Es wurde der Start in ein neues Leben.
In das Geschäft des Jorge Hilliger war kurz zuvor Hermann Conrad Fölsch eingetreten, ein junger hanseatisch gebildeter Kaufmann aus Hamburg. Gemeinsam mit ihm gründete Federico Martin ein neues Unternehmen mit dem Zweck, in das Salpetergeschäft einzusteigen. Beide hatten ein kleines Kapital erspart, ein deutsches Unternehmen in Valparaíso gewährte ihnen einen Kredit. Aus dieser ursprünglich kommerziellen Partnerschaft sollte sich rasch eine Freundschaft entwickeln, die bis ins hohe Alter hielt.
Fölsch & Martin begann mit dem Salpeterwerk Paposo, dehnte sich jedoch in kurzer Zeit gewaltig aus, neue Salpeterwerke konnten übernommen werden. Federico Martin bekam Gelegenheit, seine glänzenden Eigenschaften zu entfalten, seine Gabe, nicht nur die Technik und eine wohldurchdachte Organisation zu beherrschen, sondern auch die Menschen in jedem Augenblick richtig behandeln zu können. Gerade die letzte Eigenschaft half ihm, manchen Tiefpunkt im Verhältnis zu seinen Arbeitern durch seine Behandlung überwinden zu können.
Trotz dieser übermenschlichen Anstrengung übernahm Fölsch & Martin neue Aufgaben, investierte in neue Betriebe, verbesserte laufend Methoden, erkundete neue Abbaufelder. Federico Martin erlebte wunderbare Zeiten, und die Verhältnisse erlaubten es ihm, seine Eltern in Valdivia finanziell zu unterstützen und für sich selbst einen reichen Gewinn zu verbuchen.
Salpeter in Deutschland und Erhebung in den Adelsstand
Als im Jahre 1877 Hermann Conrad Fölsch nach Hamburg zurückkehrte und dort das Geschäft Fölsch & Co. eröffnete, wurde Federico in die Lage versetzt, nun allein Entscheidungen treffen zu müssen, die ganz besonders im Pazifischen Krieg – auch als Salpeter-Krieg bekannt – voll zum Tragen kamen und auch anderen Salpeter-Unternehmern zum Vorteil gereichten. Dabei ist besonders anzuerkennen, dass, als nach Übernahme der Provinz Iquique die chilenische Regierung anfangs erwog, den gesamten Salpeterhandel einem chilenischen Staatsbetrieb anzuvertrauen, Federico Martin dagegen vorschlug, dass dann bestimmt nichts mehr übrigbleiben würde und es doch besser wäre, den Salpeter-Export lediglich mit einer Steuer zu belegen, den Unternehmern aber freie Hand zu lassen, zu produzieren und zu verkaufen.
Wie so oft war das eine Methode, die sich glänzend bewährte. Bis zur Weltwirtschaftskrise 1928 konnte der chilenische Staat auf diese Weise nahezu seinen gesamten Staatshaushalt aus den Salpetereinnahmen finanzieren.
Im Jahre 1880 kehrte Martin, er hatte sich im gleichen Jahr mit Martha Röstel aus Puerto Montt verheiratet, nach Deutschland zurück. Seine chilenischen Betriebe ließ er in den Händen gut eingearbeiteter und vertrauensvoller Vertreter zurück. Nach ausgedehnten Reisen durch ganz Europa und einem längeren Aufenthalt in Berlin, begann er darüber nachzudenken, wie er seinen langgehegten Wunsch umsetzen konnte, auf dem Lande zu leben und – so regelrecht vor Ort – die Wirkung der Salpeterdüngung zu erleben, selbst sein eigenes Reich aufzubauen. Er kaufte das in der Oberlausitz gelegenen Rittergut Rothenburg bei Görlitz. Später erstand er noch andere Güter, die er seinen Söhnen vermachte.
Eines seiner Hauptanliegen in Deutschland war die Einführung des Salpeters in der Landwirtschaft. Zwar war das Produkt bekannt, aber noch fehlte eine weitreichende Aufklärung über seine Anwendung, die eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge bis zu fünfzig Prozent erbringen konnte. Federico Martin, nun wieder Friedrich Martin, knüpfte Beziehungen zu den landwirtschaftlichen Verbänden, wurde zum Werbeträger seiner eigenen Produkte, reiste im Reich herum. Besonders erfolgreich erwies sich die Verbindung zu den Deutschen Landwirtschaftlichen Genossenschaften. Gemeinsam gründete man die Deutschen Salpeterwerke Fölsch & Martin Nachf. AG.
Zurück auf Gut Rothenburg, nahm Friedrich Martin seine Tätigkeit als Gutsherr und Mitglied der Gesellschaft wieder auf. Durch seine Gaben und seine reichen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, stand er allzeit als oft verborgener stiller Helfer der Gemeinschaft zur Verfügung, spendete großzügig für wohltätige Zwecke, für ein Krankenhaus, ein Seuchenheim, ein Kinderspielheim, die Feuerwehr, diakonische Einrichtungen, und war der Meinung: «Wenn das Vaterland alles braucht, muss man auch alles geben.» Kaiser Wilhelm II. wusste diese Hingabe zu ehren und erhob ihn am 11. Februar 1907 in den Adelsstand: Nun durfte sich der Salpeterfürst Friedrich von Martin nennen.
Friedrich von Martin war und blieb ein «Salitrero», so nannte er sich selbst, und das bis zu seinem Lebensende. Zweimal noch kehrte er nach Chile zurück, einmal 1886/87, um nach dem Rechten zu sehen, und nochmals 1910/11. Im Jahre 1889 verlor er seine Gattin Martha Röstel, vermählte sich dann im darauffolgenden Jahr mit Margarethe Krause, gebürtig aus Königsberg, Ostpreußen. Mit ihr hatte er eine zweite Reise angetreten, die ihn wieder für lange Monate in der Tarapacá-Wüste festhielt.
Die Anstrengungen dieser letzten Reise führten nach seiner Ankunft in Rothenburg zu einem Leiden, das ihn nicht mehr verließ. Als der Krieg 1914 ausbrach, war er schwer krank. Drei Söhne und zwei Schwiegersöhne folgten der Fahne, gehörten der Kaiserlichen Armee an, ein vierter Sohn geriet unter den Verteidigern der kaiserlichen Festung Tsintao in China in japanische Gefangenschaft.
Am 6. Februar 1915 entschlief Friedrich von Martin auf seinem Gut Rothenburg bei Görlitz. Mit ihm verschied der «Salpeterfürst, der Salitrero» aus der Wüste Tarapacá. Seine Frau Margarethe überlebte ihn in Rothenburg bis zum Jahre 1942.
Quellen: Archive von Hans Christian Thiel, Urenkel von Friedrich von Martin;
Deutsche Zeitung für Chile vom 16. Mai 1942;
Deutsche Revue der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart August 1915;
Sächsische Zeitung, Ausg. Niesky 1992;
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