Zwischen den Regionen Maule und Los Lagos haben sich im Übergangsbereich zwischen aquatischen und terrestrischen Ökosystemen inselartig Waldformationen ausgebildet, die sich nicht nur von allen anderen Waldtypen in Chile, sondern auch von allen Feuchtwäldern der Welt unterscheiden. Sie werden Hualves genannt und wachsen dort, wo der Boden mehrere Monate im Jahr oberflächlich überschwemmt ist. Was macht diese Hualves so interessant und warum sind sie landschaftsökologisch so wichtig?
Zufluchtsstätten für Pflanzen- und Tiere
Nur wenige Baumarten können es vertragen, monatelang mit den «Füßen» im Wasser zu stehen und dann im Sommer nur für kurze Zeit einen besser durchlüfteten Wurzelraum zur Verfügung zu haben. Alle winterkahlen Arten, wie Roble, RaulÍ, Lenga, aber auch immergrüne, wie Boldo, Peumo und Laurel, fallen aus. Unempfindlich ist Canelo; wenn es nicht allzu nass wird, kann sich der Coigüe als einzige Nothofagus-Art halten, vielleicht auch hier und da Tepa und Ulmo – da machen schon kleinste Bodenerhebungen über dem Winterwasserspiegel etwas aus.
Wird es dauerhaft nass, überlassen diese halbangepassten Arten einer einzigen Pflanzenfamilie den Lebensraum: den Myrtengewächsen. Die erreichen in Europa zwar nur Zwergstrauchgröße, in Chile bilden sie jedoch mittelhohe Bäume aus.
Viele kennen den Arrayán mit seiner dünnen, glatten orangebraunen Rinde, aber wenige den in der Rindenfarbe ähnlichen Temu, der viel gerader und höher wächst.
Ein anderer Vertreter dieser Familie ist die Luma mit grauer unscheinbarer Rinde und schwerem harten Holz, von der Höhe eher ein Baum zweiter Ordnung.
Ebenfalls eher strauchförmig, der Tepú. Vereinzelt kommt auch Meli vor, mit seiner schneeweißen Rinde – wie in Europa die Birken. Und schließlich taucht einzeln oder in kleinen Gruppen ein ganz merkwürdiges Baumwesen auf: die Pitra. Deren Stamm sieht wie ein aus Schläuchen zusammengesetztes Bündel aus. Alle diese Myrtazeen haben ähnliche Blüten, und bei manchen von ihnen entwickeln sich daraus schwarze essbare Beerenfrüchte.
In dem weichen, nassen und torfreichen Boden erlangen die Bäume keine sehr große Standhaftigkeit; immer wieder kippt der eine oder andere um, bleibt aber mit Teilen seiner Wurzeln in Bodenverbindung und wächst zunächst horizontal weiter, bis sich Sei-
enäste aufrichten und auf das Licht zu wachsen, wie neue Bäume auf der Unterlage des umgestürzten Mutterbaums. Auf toten liegenden Baumstämmen siedeln sich auch junge Baumsämlinge an, um im Winter nicht vom Wasser überspült zu werden; die Forstleute nennen das respektlos «Kadaververjüngung».
Menschen fühlen sich gottlob in diesem dichten, dunklen Waldgestrüpp nicht wohl, umso mehr lieben es scheue Säugetiere und Vogelarten, die hier ihre Zuflucht finden. Eine Wildkatzenart, die Güiña, ist hier zu nennen, der Huillín (Nutria de los Rios), der silbergraue Quique, eine kleinere Ausgabe des europäischen Dachses, und auch ein kleines Beuteltier, der Monito de Monte. An Vögeln findet man die Gallereta, die wegen ihres charakteristischen Warnrufes «HuetHuet» genannt wird; ein kleiner, wendiger Greifvogel, der Peuquito, jagt in atemberaubendem Zick-Zack-Flug zwischen den Bäumen, um im Fluge kleinere Vögel zu erbeuten und der stattliche CaraCara-Greif lässt seine knarrige Stimme aus einem alten Coigüebaum hören, in dem er nistet.
Ein großer Wert liegt also in der Bewahrung der Artenvielfalt, dazu gehören auch Heilpflanzen, über die die Mapuche-Machis viel mehr wissen als jeder andere. Eine weitere Funktion der Hualves ist die des Wasserreservoirs auf Landschaftsebene – in Zeiten des Klimawandels von zunehmender Bedeutung. Leider wird dieser Anforderung der abnehmende Flächenstatus und der abnehmende Intaktheitsgrad dieser ökologischen Schätze immer weniger gerecht.
Was den Hualve bedroht
Von Form und Holzbeschaffenheit sind die Myrtazeen wenig tauglich für Bau- und Heizungszwecke. Das Holz ist sehr schwer, meist ziemlich krumm. Die Luma hat höchstens einen gewissen Brennholzmarkt, weil sie zwar schwer entflammbar ist, aber überaus lange die Glut hält.
Die größere Gefahr liegt in dem menschlichen Bestreben, diese scheinbar unproduktiven Waldökosysteme in andere Nutzungsarten umzuwandeln. Drainage zur Entwässerung für Eukalyptuspflanzungen, Ausweitung der Weidefläche oder gar Torfgewinnung haben zum Schwund von Hualve-Wäldern geführt, und in letzter Zeit war es – wie im gesamten Naturwaldareal in Chile – in besorgniserregender Form die Parzellierung für Zweithäuser. Hualves liegen häufig in Mündungsgebieten von Flüssen in Seen, und die haben nun einmal den höchsten Freizeitwert in Chile. Dabei sind Hualves wegen der hohen und wechselnden Wasserstände der ungeeignetste Baugrund für Häuser, aber wenn Drainagesysteme nicht möglich sind, müssen die Häuschen eben auf Stelzen gestellt werden – und im Winter fault und schimmelt alles vor sich hin…
Wenn ein Hualve zur Ausweitung der Weidewirtschaft einmal abgehackt ist und sich dann herausstellt, dass danach nur hartes ungeeignetes Gras wächst, sodass die Umwandlung nach ein paar Jahren wieder aufgegeben wird, stellt sich nach und nach wieder die typische Hualve-Vegetation ein, weil alle Baumarten ein hohes Ausschlagsvermögen haben. Das ist deshalb eine regelrechte Überlebensstrategie dieser Waldform, weil Samenverjüngung bei oberflächlich überschwemmten Böden weniger Chancen hat als vegetative Vermehrung aus Wurzelbrut und Stockausschlägen.
In einem Versuch im Wald von Millahue bei Panguipulli konnte man die Wiedereroberung eines ehemaligen Hualves nach Umwandlung in Weide und deren nachträglicher Stillegung gut rekonstruieren: Als Pionierbaumart stellt sich zuerst Canelo ein, der die ersten sechs Jahrzehnte die Oberhand behält und dann allmählich den von unten nachschiebenden Myrtazeen das Feld überlässt, sodass sich die charakteristische Baumzahl und -diversität nach etwa 150 Jahren wieder von allein eingependelt hat. Ein langer Zeitraum für den Menschenkalender – ein eher normaler für die Wiederherstellung eines Waldgefüges.
Gesetzliche Regelungen zum Schutz der Feuchtwälder
Mit dem Gesetz zur Sanierung der natürlichen Waldvegetation und seiner Förderung (Ley 20.283) aus dem Jahr 2008 gab es insofern einen Schutz für die Feuchtwälder, als diese von einer bestimmten Größe (0,5 Hektar) und Beschaffenheit an unter den Begriff Naturwald fallen, dessen Bewirtschaftung einen genehmigten Bewirtschaftungsplan voraussetzt.
Eine nachfolgende Verordnung (Decreto Supremo 82) von 2010 befasst sich sodann speziell mit dem Schutz von Feuchtwäldern, indem es zwischen Zonen mit generellem Eingriffsverbot und solchen mit Eingriffsbeschränkungen unterscheidet.
Wichtiger ist aus aktueller Sicht das im Jahre 2020 verabschiedete Gesetz zum Schutz der Feuchtwälder im urbanen Bereich (Ley 21.202), weil ja die größte Gefahr heute die der Parzellierung und Umwandlung für Siedlungszwecke ist. Nun kann das Umweltministerium entweder aus eigener Befugnis oder aufgrund von Anträgen der Gemeinden Waldzonen zu «gesetzlichen Feuchtwäldern» erklären und die letztgenannten Gebietskörperschaften müssen dann per «Ordonanz» die Schutzbedingungen festsetzen.
Zwei weitere wichtige Ziele werden mit diesem Gesetz erreicht: Das allgemeine Umweltschutzgesetz wird dahingehend ergänzt, dass in den zu Feuchtwäldern erklärten Gebieten ein Veränderungsverbot bindend gemacht wird und – was langfristig wichtig ist – dass alle Raumplanungen (zum Beispiel planes reguladores) diese Feuchtgebiete berücksichtigen und angemessen schützen müssen.
Ausblick mit gedämpftem Optimismus?
Das ist wohl übertrieben. Zu viele von diesen Hualves sind bereits dem menschlichen Einfluss zum Opfer gefallen; durch gezielte Wiedervernässung könnten manche in Jahrzehnten wieder funktionsfähig werden. Dass es schlussendlich zu einem gesetzlichen Schutz in Chile gekommen ist, lässt trotzdem aufatmen. Damit kann wenigstens der Totalverlust verhindert werden.
Quellen:
Carlos Ramirez, Fernado Ferriere y Heriberto Figueroa, 1983. Estudio Fitosociológico de los Bosques Pantanosos templados del Sur de Chile. Revista Chilena de Historia Natural, 56, 11-26.
Enrique Hauenstein, Fernando Peña-Cortés, Mirta Latsague, Carlos Bertrán y Jaime Tapia, Degradación del Bosque Pantanoso en la Región de la Araucanía (Chile). Pérdida de su Biodiversidad y Recursos Genéticos. 2006. Fitogenéticos, VII Simposio de Recursos Genéticos para América Latinas y el Caribe
Fotos: Carmen Gloria Müller-Using