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viernes, 20. septiembre 2024
Inicio Kultur Wahrnehmungen eines Niedersachsen, der seit 20 Jahren in Chile lebt 

Wahrnehmungen eines Niedersachsen, der seit 20 Jahren in Chile lebt 

Zur unterschiedlichen Lebensart von Chilenen und Deutschen

Bei der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft 2014 wurde nach langem erstmals wieder mit deutschen Fahnen gefeiert.

Lebensart hängt stark vom Zeitgeist ab, und der Zeitgeist wird immer internationaler, besonders in den Großstädten. So kann es sein, dass ein 80-jähriger Kauz, der seit zwei Jahrzehnten seinem Geburtsland den Rücken zugekehrt hat, sich fragen lassen muss: Ist deutsche Lebensart noch das, was sie vor 20 Jahren war? 

Sicher nicht – deswegen war es angezeigt, diese Betrachtungen von den eigenen Kindern hier und drüben in Deutschland querlesen zu lassen – was entsprechend geschehen ist. Dabei ist herausgekommen, dass in der Tat manche Unterschiede inzwischen kleiner, manche gleichbleibend und manche gar größer geworden sind. Aber verschwunden sind sie nicht.

Man kann zum Beispiel nachlesen, dass heute um die 40 Prozent aller Intercity-Züge in Deutschland unpünktlich sind; daraus schließen zu wollen, dass in Bezug auf die Wertschätzung der Pünktlichkeit zwischen Chile und Deutschland keine Unterschiede bestehen, wäre aber ein Irrtum. Man braucht nur zu sehen, wie sich die Deutschen über den unpünktlichen Bahnverkehr aufregen, und mit welcher freundlich-stoischen Gelassenheit in Chile Unpünktlichkeit quittiert wird. Wenn ein Chilene zu spät zu einer Verabredung kommt, sagt er «se me fue la micro», so als ob der Bus schuld wäre, weil er nicht auf ihn gewartet hätte. Der Deutsche hingegen gesteht schuldbewusst ein: «Ich habe den Bus verpasst.» Kleine semantische Unterschiede, die gleichwohl Unterschiede anzeigen, wo in den betreffenden Tugendskalen die Pünktlichkeit ihren Platz hat. 

Das ist in einen größeren Tugenden-Komplex eingebettet: allgemeine Zuverlässigkeit und Pflichtbewusstsein. Die stehen bei den Deutschen immer noch ganz oben in der Skala, und zwar sowohl hinsichtlich persönlicher Versprechen als auch gegenüber gesetzlichen Normen. Es gibt nicht so einen ironisch-humoristischen Ausdruck wie «papito corazón» für Väter, die sich um die Alimente drücken, und auf der anderen Seite gibt es in Chile nicht die den Deutschen zugeschriebene Witzfigur, die, obwohl weit und breit kein Autoverkehr zu sehen ist, nicht die Straße überquert, weil eine obsolete Fußgängerampel auf Rot steht. 

Diese im Prinzip gesellschaftsstabilisierende deutsche Erfüllungstreue hat übrigens ihren Preis: Sie erzeugt nervliche Verspannung, Gewissensbisse, wenn einmal dagegen verstoßen werden muss, und oft einen ungesunden Erwartungsdruck – also Minderung der persönlichen Lebensqualität. Dass der Autor dieser Zeilen sie dennoch für einen Pluspunkt hält, mag auch daran liegen, dass er sich als Ruheständler nicht mehr, wie ein Hamster im Laufrad bewegen muss.

Weltmeister im Planen – auf Kosten der Improvisation

Deutsche vermeiden Medikamente eher – für Chilenen sind sie notwendig: Ob Tabletten, Arzneisäften oder Heilsalben.

Ein anderer Punkt ist, wie in beiden Völkern das private Leben durchgeplant wird. Ich erinnere mich an die Einladung eines Berufskollegen in Hamburg Anfang August des betreffenden Jahres für den 23. Oktober um 20 Uhr zum Abendessen in seinem Hause. In der Regel erscheint man dann ohne vorherigen Rückruf pünktlich nach zweieinhalb Monaten Karenzzeit, drückt um 20 Uhr den Klingelknopf und findet den Gastgeber wohlvorbereitet und ohne die geringste Überraschung, dass dies alles, wie geplant, nun abzulaufen beginnt. In Chile – wenn man denn von einem nicht eben eng befreundeten Kollegen überhaupt ins Haus zum Abendessen eingeladen wird – wäre der Vorlauf maximal zwei Wochen, und in jedem Fall müsste das kurz vorher noch einmal telefonisch bestätigt werden. Wie überhaupt jede Verabredung – es könnte ja etwas dazwischenkommen, und das tut es auch oft.

Selbstverständlich erscheint man in Deutschland ohne Kinder, wie schwer es einem auch gefallen sein mag, einen Babysitter zu finden. Denn um 20 Uhr müssen kleine Kinder sowieso und unter allen Umständen im Bett sein, ob sie müde sind oder nicht. Meist sind sie es nicht, und das führt zu dem zermürbenden Gute-Nacht-Zeremoniell, einem allgemeinen Ritual in Deutschland, das meist so endet, dass dasjenige Elternteil, das damit an der Reihe ist, vor lauter Schlaf-Kindchen-Schlaf-Gesängen eher eingeschlafen ist als der kregele Sprössling.

Da ist man in Chile pragmatischer: Man nimmt die Zwerge entweder mit, und lässt sie herumwuseln, bis sie unter irgendeinem Tisch eingeschlafen sind. Und wenn einmal doch ein Babysitter angeheuert werden muss, dann ist es eher dessen Sache, wann und wie die Brut zum Schlafen kommt. Hauptsache sie ist in diesem Zustand, wenn man von der Einladung zurückkommt.

Mit der Fürsorge für die Alten ist es eher umgekehrt: Kommen die Eltern in die Fünfziger,dürfen sie in Chile nicht mehr allein zum Arzt gehen: Sie müssen dort entweder als Ehepaar erscheinen, solidarisch in Freud und Leid, oder von einem der Kinder begleitet werden – auch wenn es sich um den kleinsten, harmlosesten Gesundheitsdefekt handelt. Mamá hatte heute Morgen so ein Kratzen im Hals…

Neben dieser für unsereinen übertriebenen Solidarität ist auch der Glaube an die Notwendigkeit und Wirkung von Medikamenten tiefer verwurzelt als in Deutschland, und die Angst vor Nebenwirkungen, Gewöhnung oder Züchtung immuner Bakterienstämme, die den Deutschen so tief in den Knochen steckt, ist kaum ausgeprägt. Selbstmedikation ist so normal wie die Umgehung der Mehrwertsteuer für 

Dienstleistungen, und es gibt einen ausgedehnten Schwarzmarkt für rezeptpflichtige Arzneien.

Hundeliebe – zwischen Bett und Straße

Große Hundesliebe in Chile. Für den Vierbeiner ist nichts gut genug.

Die Sorge, sich anzustecken, mag in der Pandemiezeit weltweit auf ein hohes Niveau angehoben worden sein, aber vor- wie nachher fällt auf, dass die Hygieneeinhaltung gegenüber den eigenen Haustieren, insbesondere Hunden, hier in Chile kein Thema ist. Sie gehören zur Familie, werden über Nacht mit ins Bett genommen, aus der Hand gefüttert und aufgefordert «Küsschen» zu geben. 

Da die geliebten Vierbeiner selten «Einzelkinder» sind, sondern mit unzähligen anderen ihresgleichen freien Ausgang in den Straßen genießen, stehen sie auch miteinander in engem Körperkontakt, was jedoch 

keinerlei hygienische Vorbehalte weckt. Die Hundeliebe ist ein solches «Markenzeichen» in Chile, dass zur 200-Jahrfeier ein «Quiltro» zum Wahrzeichen gewählt wurde, und beim zweiten Anlauf zur Redaktion einer neuen Verfassung wird diskutiert, ob das Recht auf Unversehrtheit des Lebens auch für Hunde Verfassungsrang erhalten soll.

Natürlich gibt es auch in Deutschland ein Tierschutzgesetz, das entsprechend dem zunehmenden Trend zur Solidarisierung mit Tieren dem Zeitgeist weiter angepasst wird, es gibt dort auch Hundeliebhaber, aber man darf dort auch öffentlich bekennen, dass man Hunde nicht mag. Das war auch von Angela Merkel bekannt und hat ihre Beliebtheit 16 Jahre lang nicht negativ beeinflusst. In Chile hätte das wahrscheinlich zu einem «Shitstorm» in den privaten Netzen geführt.

Typisch deutsche Macken – hier nur zwei davon

Wenn sich der deutsche Tourist beim chilenischen Rotwein bemüßigt fühlt, seine Kenntnisse zum Besten zu geben…

Auf der anderen Seite haben die Deutschen selbst auch eine Fülle von Macken. Eine davon ist das Arriviertengetue, sich als Weinkenner auszugeben. Das ist besonders lächerlich, wenn Touristen aus meinem Heimatland in Chile einen angebotenen Rotwein pseudokennerisch im Mund wälzen, um dann anerkennend zu nicken und vielleicht sogar noch eine Bemerkung dieses blasierten Fachjargons folgen lassen, wie : «Vorne piekt er fast ein bisschen, aber hinten kommt das Fruchtige dann voll zur Geltung.» Das hat der Chilene nicht nötig: Hier ist jeder Rotwein über 5.000 Pesos besser als jeder Rotwein, der auf deutschen Weinbergen wächst, und da erübrigen sich solche Kommentare.

Eine andere Macke meines Heimatvolkes ist das Sendungsbewusstsein, nach dem am deutschen Wesen die Welt genesen soll. Das hatten wir schon mal… Aber in der Migrationsdiskussion taucht dieser totgeglaubte Überlegenheitsanspruch hier und da leider wieder auf. 

Die Chilenen lassen dem anderen eher sein Anderssein, sind zunächst einmal offen für abweichende Meinungen und haben nicht dieses Missionarische. Das geht so weit, dass ein klares, hartes «Nein» von ihnen in einer Unterhaltung nicht erwartet werden sollte. Aber das wird von den «Gringos» nur falsch interpre-

tiert. Es gibt sehr wohl das «Nein», nur mehrere höfliche Abstufungen davon. Eine solche lautet zum Beispiel «si dios quiere» und ein wiederholtes «mañana» ist auch eine Verneinung.

Umso enttäuschter ist der Chilene über ein typisches Nein, was er sich von einem Deutschen einfangen kann, wenn er ihm kurzfristig eine Aktivität vorschlägt, mit der er ihm eine Freude machen will. «Nein, danke» kann er dann zu hören bekommen, «das ist mir aber jetzt zu spontan!». 

Dios mio! Da ist man hier wirklich flexibler, in so einem Falle – und überhaupt!.

Ein komplizierter Punkt: Die Vaterlandsliebe 

Man vergleiche den «18 de Septiembre» mit dem – wann war es noch? – 3. Oktober in Deutschland. Dort war in den letzten Jahrzehnten eigentlich nur der Sport, vor allem der Fußball, von nationaler Gleichgültigkeit ausgenommen. Das weiter oben angesprochene Sendungsbewusstsein kann bisher nicht als ein Ausfluss von Vaterlandliebe gedeutet werden. Die ist in Deutschland bisher eher dürftig. Dass sie so gedämpft bleibt, ist allerdings angesichts der Wahlerfolge der Rechtspartei «Alternative für Deutschland» unwahrscheinlich. 

In Chile hat das Nationalbewusstsein wenig mit rechts oder links zu tun, im Gegenteil es scheint mir einer der wenigen gemeinsamen Nenner zwischen beiden Lagern zu sein. Die sozialistische Internationale hat hier nie so recht verfangen. Anders die europäische Idee in Deutschland, die auf ein historisch bedingtes Vakuum an Vaterlandsliebe stieß.

Ein Fazit im Sinne einer Auflistung aller «Plus- und Minuspunkte» gibt es nicht, es wäre eine unzulässige Betrachtungsweise. Alles hat seine historischen und kulturellen Gründe, jeder hat aus eigener Biografie sein subjektives Bewertungsschema – aber es lässt sich dennoch nicht leugnen, dass trotz besseren materiellen Wohlergehens meine deutschen Landsleute auf einer internationalen Skala des «Sich-Glücklich-Fühlens» seit Jahrzehnten weit hinter den Chilenen rangieren.

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