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Alltag und Widerstand im DDR-Regime

Die Unangepassten

Marianne Birthler: «Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben», Verlag: Hanser Berlin, 424 Seiten, erschienen 2014

Die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1989 bedeutete vor allem für die Menschen in der DDR das Ende eines Lebens in der DDR als Staat. Wolfgang Thierse, der ehemalige Bundestagsvizepräsident, urteilte in der Süddeutschen Zeitung 2009: Die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen und gescheitert, ihre Bürger aber seien nicht gescheitert. Dies zeigen mutige, nicht angepasste Menschen, wie die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler oder fiktive Figuren, wie Otto Fanzelau, Fluchthelfer in dem Roman von Johannes Mario Simmel, und Gerd Wiesler, ein Stasi-Mann in «Das Leben der Anderen».

Marianne Birthler beschreibt in ihrer Autobiografie «Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben», wie sie die deutsche Geschichte geprägt hat. Sie war Bürgerrechtlerin in der DDR, Abgeordnete, Ministerin und Sprecherin der Bündnis 90/Die Grünen. Besonders bekannt wurde sie als Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde und Nachfolgerin von Joachim Gauck. 

Engagement in der Kirche

Die hochgewachsene, im Ostberliner Friedrichshain aufgewachsene Frau tritt nicht nur selbstsicher auf, wie die Schreiberin dieser Zeilen in einer von Birthlers Lesungen erleben konnte. Sie hat von Kind an immer wieder mutig zu ihren Überzeugungen gestanden. Dabei ist die heute 75-Jährige meistens nicht den bequemen Weg gegangen. Das selbstbewusste Auftreten habe sie aber erst lernen müssen, «sich zu exponieren, vor anderen aufzustehen, die eigene Stimme laut zu hören, zu riskieren, dass manche die Augenbrauen hochziehen – Frauen ist mehr als Männern anerzogen worden, so zu sein, dass man nicht auffällt», schreibt sie in ihrem Buch. Es liest sich auch deswegen so interessant, weil sie neben ihrem beruflichen Weg ihr Privatleben, Schicksalsschläge, Enttäuschungen und persönliche Handlungsmotive schildert. 

Der Leser erlebt mit ihr den DDR-Alltag der 1950er und 1960er Jahre, Anekdoten zuhause und in der Schule. Sie ist sieben Jahre alt, als ihr Vater an Tuberkulose stirbt. Der Mutter hilft sie nach der Schule am Stand in der Markthalle am Berliner Alexanderplatz. Ihr zuliebe ist sie Mitglied in der FDJ – es sollte ihr die Schul-
laufbahn der Erweiterten Oberschule nicht verschlossen bleiben. Gleichzeitig engagiert sich das Mädchen in der Jungen Gemeinde. Aus der DDR-Jugendorganisation tritt sie trotz der folgenden Nachteile in der neunten Klasse aus. Die Mitglieder ihrer Kirchengemeinde geben ihr Halt.

Dort lernt sie auch ihren Mann kennen. Sie heiratet und ihre drei Töchter werden geboren. Bis etwa Ende der 1970er Jahre füllt sie der Alltag als Hausfrau, Mutter und Praxishelferin bei ihrem als Tierarzt tätigen Mann aus. 

«Der Geschmack von Freiheit»

Nach der Trennung des Paares und ihrem Umzug nach Berlin beginnt Marianne Birthler in der Eliaskirche aktiv zu werden. Sie gibt Religionsunterricht. 1986 schließlich wird sie Mitgründerin der ersten in der ganzen DDR agierenden oppositionellen Organisation «Arbeitskreis Solidarische Kirche». Die Versammlungen und ihre Tätigkeiten werden von der Stasi beobachtet. Ab 1988 wagt sie es, öffentlich zu protestieren. 

Dann kommt der Herbst 1989. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, lässt die Führung in Berlin in der Nacht hunderte Regimegegner verhaften. Marianne Birthler beschreibt, wie sie selbst mit mehr als 2.000 Menschen in der Kirche ausharrt. Am 9. Oktober wartet sie angespannt auf einen Bericht von der Leipziger Montagsdemo. Dieser kommt über das von ihr selbst ins Leben gerufene Kontakttelefon der Opposition: Die Demonstranten sind auf der Straße – und es fällt kein Schuss. «Das war wirklich ein unbeschreiblicher Moment in der Kirche. Wildfremde Leute sind sich in den Arm gefallen, haben gejubelt», erinnert sie sich. «Diesen Moment werde ich meinen Lebtag nicht vergessen, das war wirklich der Geschmack von Freiheit.»

Auch nach dem Mauerfall ist sie weiter aktiv: Im neuen Bundesland Brandenburg erhält sie 1990 als Spitzenkandidatin von Bündnis 90 ein Ministerium. Wieder lässt sie sich 1992 von ihrer Überzeugung leiten, als Manfred Stolpe, Ministerpräsident von Brandenburg, unter dem Verdacht steht, enge Kontakte mit der Staatssicherheit gehabt zu haben: Marianne Birthler tritt zurück.

Im Jahr 2000 erwartet sie eine neue Aufgabe: Sie wird Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Bis 2011manövriert sie die Stasiunterlagenbehörde durch juristisch sensibles Terrain.

Als Angela Merkel sie nach Gaucks Amtszeit als Bundespräsident fragte, ob sie für dieses Amt kandidieren wolle, lehnte sie ohne Begründung ab – sie ist immer ihren eigenen Weg gegangen.

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