An jenem eisigen Wintertag, als die Bewohner des Hafens von Valparaíso am 17. Juli 1823 gerade zu erwachen begannen, stach die englische Fregatte Fly, ein Kriegsschiff der britischen Royal Navy, mit der ersten Morgenbrise in See, um ihr Ziel zu erreichen, El Callao, in Peru. An Bord reiste der angesehene ehemalige Director Supremo der Republik Chile ins Exil: General Bernardo O’Higgins Riquelme, 44 Jahre alt, der, in seinen dicken Militärumhang gehüllt, bereits zu dieser frühen Stunde Zeuge der Manöver der Besatzung zum Setzen der Segel und der Entfernung vom Pier sein wollte.
Eine sorgfältige Beobachtung offenbarte einen interessierten Mann voller Lebenskraft. Doch wer in seine Seele eingetaucht wäre, hätte den tiefen, bleibenden Schmerz wahrnehmen können, mit dem er sich von der Küste seiner Heimat entfernte, die er mit so großer Inbrunst liebte. Um vor diesen groben Seeleuten seine verräterischen Tränen zu verbergen, die ihm über die Wangen liefen, ging er langsam zum Heck und richtete seinen Blick auf die Gipfel der Küstenkordilleren, die den Hintergrund dieser Landschaft bildete, die so heftig seinen Geist berührte.
Erinnerungen
Plötzlich sahen seine feuchten Augen nichts mehr und sein Blick richtete sich auf sein Inneres, das von den jüngsten Ereignissen tief getroffen war. Dort erkannte er sich als Kind, den kleinen Bernardo Riquelme, den «Huacho», und weiter entfernt seine verehrte Mutter Isabel und seinen ernsthaften Vater Ambrosio O’Higgins, den Marquis von Osorno, und später Vizekönig von Peru, der sich stets um seine Unterstützung und Bildung gekümmert hatte, der aber nie seine Vaterschaft anerkannt hatte, bis er auf seinem Sterbebett lag. Dann wandten sich seine Erinnerungen nach England, wohin ihn sein Vater in jungen Jahren zum Studium geschickt hatte, zu seinen Lehrern und all dem Wissen, das er von ihnen erwarb, von der englischen Sprache, die er perfekt beherrschte, über Mathematik und Naturwissenschaften bis zur Beherrschung des Klaviers, die ihm der bekannte Komponist Muzio Clementi beigebracht hatte.
Und in einer anderen Ecke seines Geistes traf er dann Francisco de Miranda, diesen angesehenen Venezolaner, der ihm schon in jungen Jahren seine liberale Weltanschauung vermittelte, die tief in seinen Geist eingedrungen war und alle seine nachfolgenden Aktionen beeinflusst hatte. Diese zielten immer darauf hin, sein Land und alle anderen spanischen Kolonien in Südamerika vom Joch der absolutistischen Monarchie der Bourbonenkönige unabhängig zu machen. Mit Liebe erinnerte er sich an alle seine Freimaurer- und Lautarino-Brüder, die ihn mehr als ein Jahrzehnt lang im Befreiungskampf begleitet hatten und
an den prominentesten unter ihnen, seinen innigen Freund José de San Martín, «Pepe», der argentinische General, der ihm die Kunst des Krieges beigebracht hatte, und mit dem er die Unabhängigkeit Chiles und Perus geschmiedet und danach durchgeführt hatte. Laut dem Bruder Bernardo Vera y Pintado:
«Zwei Brüder und eine einzige Illusion,
die Freiheit des Geistes lässt sie fliegen,
aus zwei Nationen und einem Herzen,
eine einzige Sehnsucht lässt sie kämpfen,
diesen edlen Ort frei von Goten (Spaniern) zu sehen.
Zwillinge mit einer reinen und transparenten Seele,
ein zu hoher Preis für unseren Kontinent.»
Und dann schlüpfte in seine Erinnerungen sein erbitterter Gegner José Miguel Carrera, der jahrelang versucht hatte, die immerwährende Macht der chilenischen Aristokratie zurückzugewinnen, jene, die ihr die Liberalen entzogen hatten. Glücklicherweise hatte er damit keinen Erfolg gehabt.
Schließlich kam er nicht umhin, sich an die schmerzhafte Abdankung zu erinnern, die er hinnehmen musste, um seine Landsleute vor einem mörderischen Blutbad zu bewahren. Der 28. Januar 1823 sollte sich in sein Herz einprägen, als er die Kommandoabzeichen überreichte, um sich in das Winterquartier zurückzuziehen. Voller Würde hatte er zu den wichtigsten Persönlichkeiten Chiles gesagt:
«Es tut mir leid, dass ich diese Abzeichen nicht vor der Nationalversammlung hinterlegen kann, von der ich sie einst erhalten hatte; es tut mir leid, in den Ruhestand zu gehen, ohne die Institutionen gefestigt zu haben, die aller Meinung nach für das Land angemessen sind und die ich zu verteidigen geschworen hatte. Aber ich finde zumindest den Trost, dass Chile von jeglicher Fremdherrschaft unabhängig ist, im Ausland respektiert wird und mit Ruhm für seine Waffentaten bedeckt ist.»
Die kleine Hand seines Sohnes Demetrio, der an seine Seite kam, um seine zu ergreifen, brachte ihn in diesem Moment in die Gegenwart zurück und er verdrängte für einen Moment die Bitterkeit, die seinen Geist bedrängte. Er streichelte den Kopf des kleinen Jungen und gemeinsam gingen sie, um mit Doña Isabel und Bernardos Schwester Rosita zu frühstücken.
Viele Stunden später, als die Sonne am Horizont unterging, machte es sich O‘Higgins am Bug des Schiffes zur Aufgabe, die Geistesstärke zu bewahren, die ihn immer geprägt hatte, sich seinem Schicksal mutig zu stellen und seiner Zukunft mit demselben Mut entgegenzutreten, mit dem er in den glorreichen Schlachten von El Roble und Chacabuco gekämpft hatte. Am Ende musste er erkennen, dass er ein freier Mann war, dies war eine Tatsache. Von seinem früheren Reichtum war nichts mehr geblieben, er hatte ihn in seinem Leben als Soldat und als Politiker vollkommen verschwendet. Doch das bereute er nicht, die Gründe dafür waren zu wichtig gewesen. Jetzt hoffte er, von den Landgütern Montalvan und Cuiba, die ihm der peruanische Staat als Dank für seinen Beitrag zu seiner Unabhängigkeit geschenkt hatte, in Zukunft leben zu können.
«Ich bin immer euer Untertan und euer Mitbürger»
Seine Gedanken wandten sich dann einem anderen berühmten Verlierer zu, nämlich dem großenNapoleon Bonaparte, und er stellte sich vor, wie dieser damals, im Jahr 1815, in sein letztes schreckliches Exil auf der Insel St. Helena gegangen war, von seinen Feinden besiegt, um dort von der britischen Regierung für immer eingesperrt zu werden. «Anders als ich», dachte Bernardo, «Ich bin kein Kriegsgefangener, ich bin nur ein Verlierer in der politischen Arena, der sich jetzt von jenem Schauplatz der Leidenschaften distanzieren will, um anderen, insbesondere dem Bruder Ramón Freire, die Aufgabe des Aufbaus der neuen Republik zu überlassen. Ich tat gut daran», dachte er dann, «mir Sorgen zu machen, dass die Führung des Landes in Händen liberaler Patrioten bliebe. Nur so können die Ziele der Liberalen verwirklicht werden.» Anschließend wiederholte er für sich die Worte, die er den Chilenen hinterlassen hatte, als es Zeit war zu gehen:
«Landsleute! Da ich euch zum Abschied nicht umarmen kann, erlaube ich mir, ein letztes Mal zu euch zu sprechen. Mit schmerzlichem Herzen und zitternder Stimme verabschiede ich mich
von euch. Das Gefühl, mit dem ich von euch scheide, ist nur mit meiner Dankbarkeit zu vergleichen, ich habe um diese Abreise gebeten, die mich jetzt so berührt, aber die Umstände, die ihr alle miterlebt habt und die ich für immer vergessen werde, erfordern es so. Wo immer ich ankomme, werde ich bei euch sein und bei meiner lieben Heimat. Ich bin immer euer Untertan und euer Mitbürger.»
Später, in vollkommener Dunkelheit in seiner engen Kabine, dachte O’Higgins noch einmal an den glorreichen und zugleich unglücklichen Napoleon, der einmal an der Spitze gewesen war, der mit seinen Fingern den Himmel berühren konnte und der danach alles verlor: Reichtum, Ruhm und Ehre. Er fühlte sich in dem Moment des Kaisers schmerzvollem Schicksal eng verbunden:
St. Helena um Mitternacht
Der Kaiser ist vom Traum erwacht
Er denkt daran – wie bald sich alles ändern kann
Du bist gefangen und allein
Und wolltest nah´ den Sternen sein
Wer denkt daran – wie bald sich alles ändern kann.
(Freddy Quinn)