Die Kraft der Lyrik
Am 21. März feiern die Vereinten Nationen und viele andere Institutionen auf der ganzen Welt den Tag der Poesie. Die Cóndor-Redakteure stellen daher Gedichte vor, die ihnen besonders gefallen. Vielleicht regen diese auch unsere Leser an, wieder einmal die Schönheit und Kraft der Lyrik durch Reime, Versmaß und Metaphern zu spüren, die bei keiner anderen Textgattung als dem Gedicht so sehr im Mittelpunkt stehen.
An die Bienen
Bienen! Immen! Sumseriche!
Wer sich je mit euch vergliche,
der verdient, daß man ihn töte!
Daß zumindest er erröte!
Denn, wie ihr in Tal und Berg schafft
ohne Zutun der Gewerkschaft,
ohne daß man euch bezahle,
ohne Streik und Lohnspirale,
täglich, stündlich drauf bedacht,
daß ihr für uns den Honig macht,
ihr seid’s wert, daß man euch ehre!
Wobei vorzuschlagen wäre —
ob nun alt ihr, ob Novizen —
euch von heute ab zu siezen!
Unser Dank, unser Applaus
säh in etwa dann so aus:
«Sehr geehrte Honigbienen!
Wir Verbraucher danken Ihnen!»
Der Schmunzelmeister
Von Karla Berndt
Heinz Erhardt (1909-1979), der beliebteste deutsche Komiker in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren
Heinz Erhardt (1909-1979) war ein deutsch-baltischer Komiker, Musiker, Unterhaltungskünstler, Schauspieler und Dichter. «Ich könnte manchmal vor Glück eine ganze Allee von Purzelbäumen schlagen», hat der Schmunzelmeister und Jahrhundert-Humorist beispielsweise gesagt. Sein Humor baut in erster Linie auf Wortspielen und verdrehten Redewendungen auf. Ich bewundere seine Beherrschung der deutschen Sprache, seinen Wortwitz und seine überraschenden Zitate, wie «Manche Menschen wollen immer glänzen, obwohl sie keinen blassen Schimmer haben», vor allem aber seine Gedichte, die mich immer wieder zum Lachen bringen:
Chor der Müllabfuhr
Auf, auf und auf!
Lasst uns von Tonne zu Tonne eilen,
Wir wollen dem Müll
eine Abfuhr erteilen.
Noch heute erobert er die Herzen seiner Leser, Hörer und Zuschauer. Schauen Sie doch mal auf die offizielle Heinz Erhardt-Website mit der umfangreichsten Sammlung seiner Gereimt- und Ungereimtheiten:
www.heinz-erhardt.de/
O weh, wohin sind sie verschwunden
O weh, wohin sind verschwunden alle meine Jahr!
Ist mir mein Leben erträumt, oder ist es wahr?
Alles, wovon ich je glaubte, es sei etwas, war das etwas?
Demnach habe ich geschlafen und weiß es nicht.
Jetzt bin ich erwacht und es ist mir das unbekannt,
was mir zuvor so bekannt war wie eine meiner Hände.
Land und Leute, bei denen ich von Kindheit an auferzogen worden bin, die sind mir fremd geworden, so als sei es erlogen.
Diejenigen, die meine Spielkameraden waren, sind jetzt träge und alt.
Bereitet ist das Feld, verhauen ist der Wald.
Wenn nicht das Wasser so fließen würde, wie es weiland floss,
wahrlich, ich würde glauben, mein Unglück sei groß.
Mich grüßen viele träge, die mich früher gut kannten,
die Welt ist in jeder Hinsicht voll von Unheil.
Wenn ich an viele angenehme Tage denke,
die mir verloren gegangen sind wie ein Schlag ins Wasser:
Immer mehr o weh!
Ein melancholischer Rückblick
Von Walter Krumbach
Dies ist der erste Teil meines Lieblingsgedichtes «O weh, wohin sind sie verschwunden“» von Walther von der Vogelweide.
Walther von der Vogelweide (ca. 1170 – ca. 1228), der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des Mittelalters
Das Gedicht ist ein melancholischer Rückblick eines alten Mannes auf sein vergangenes Leben. Es beschreibt auf berührende, eindringliche Weise die Vergänglichkeit der eigenen Existenz, die Beziehung zu den Mitmenschen und das Verhältnis zur Umgebung. Dabei überträgt der Dichter auf eine sehr direkte und deutliche Art seine Empfindungen, die der Leser folglich unmittelbar nachvollziehen kann.
Einkehr
Bei einem Wirte, wundermild;
da war ich jüngst zu Gaste;
ein goldner Apfel war sein Schild
an einem langen Aste.
Es war der gute Apfelbaum,
bei dem ich eingekehret;
mit süßer Kost und frischem Schaum
hat er mich wohl genähret.
Es kamen in sein grünes Haus
viel leichtbeschwingte Gäste;
sie sprangen frei und hielten Schmaus
und sangen auf das beste.
Ich fand ein Bett zu süßer Ruh
auf weichen, grünen Matten;
der Wirt, er deckte selbst mich zu
mit seinem kühlen Schatten.
Nun fragt, ich nach der Schuldigkeit,
da schüttelt, er den Wipfel.
Gesegnet sei er allezeit
von der Wurzel bis zum Gipfel!
Anmutig und heiter
Von Silvia Kählert
Der Literaturwissenschaftler und Politiker Ludwig Uhland
(1787-1862)
Eine kleine Begebenheit erzählt dieses Gedicht. Anmutig, fließend und heiter schreibt der Dichter über seine freundliche Aufnahme eines großzügigen Wirts. Es handelt sich um ein Wortspiel, in der zweiten Strophe nennt Autor Ludwig Uhland den Apfelbaum als seinen «Gastgeber». Es verwundert beim Lesen nicht, dass es als Volkslied vertont wurde – so wie einige seiner Gedichte. Im 19. Jahrhundert war der Tübinger neben Goethe und Schiller der beliebteste deutsche Schriftsteller.
So harmlos dieses Gedicht klingt, sein Verfasser, der zu den Heidelberger Romantikern um Achim von Arnim und Clemens Brentano zählte, war es ganz und gar nicht. Während der Märzrevolution 1848 wurde Ludwig Uhland als liberaler Abgeordneter Mitglied des ersten deutschen Parlamentes in der Paulskirche.
1853 lehnte er den hochangesehenen preußischen Orden «Pour le mérite» für Kunst und Wissenschaft ab, weil er ihn nicht mit seinen politischen Grundsätzen vereinbaren konnte. In der öffentlichen Ablehnung gedachte er seiner inhaftierten, verbannten und erschossenen Kameraden.