Eine Ikone im roten Rahmen
Wer es auf die Titelseite von «Time» schafft, ist entweder berühmt oder wird es. Nun wird das weltweit einflussreiche US-Magazin 100 Jahre alt.
New York (dpa) – Als am 3. März 1923 ein neues «wöchentliches Nachrichtenmagazin» an den amerikanischen Verkaufsständen auslag, konnten die ersten Leserinnen und Leser nicht wissen, dass «Time» zu einer Institution werden sollte. Doch schon damals hatte das Magazin alles, was es noch 100 Jahre später ausmacht: Den komprimierten Blick auf die wichtigsten Themen aus Politik und Gesellschaft. Die nüchterne Art. Den Anspruch, besser zu sein. «Time» ist gewissermaßen die Mutter aller Nachrichtenmagazine: Medien auf der ganzen Welt ahmten dieses Format nach, den Artikelstil bis hin zu den Titelseiten mit rotem Rahmen. Letztere sind das Markenzeichen des Blattes.
Einflussreiches US-Magazin
Mit Geschichten vom ersten Helikopter oder deutschen Weltkriegsreparationen an Frankreich leitete «Time» damals eine journalistische Ära ein. Das Magazin entwickelte einen unverwechselbaren Stil, der den öffentlichen Diskurs der aufstrebenden Supermacht bei den größten Fragen mitbestimmte.
In den Anfangsjahren war «Time» für seine konservative Ausrichtung bekannt, gemäß den Ansichten von Gründer Henry Luce. Und das Blatt wuchs schnell: Nach vier Jahren verkaufte «Time» mehr als 175.000 Exemplare pro Woche. Im Zweiten Weltkrieg wurde es für die USA zu einer der wichtigsten Quellen der Meinungsbildung. Besondere Wirkungsmacht entfaltete die «Time»-Berichterstattung über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren.
Luces von Amerikas Hegemonie geprägtes Denken hatte laut Biograf William Andrew Swanberg direkten Einfluss auf die US-Entscheidung zum Krieg in Vietnam. «Die Luce-Medien führten die Nation in den Krieg, statt ihr zu folgen», schrieb er 1972. Der Verleger habe 50 Millionen Menschen Woche für Woche manipulieren lassen.
Weltberühmte Cover-Porträts
In den ersten Jahrzehnten zierten – abgesehen von wenigen Ausnahmen – fast ausschließlich Porträts von Männern die Cover. Einige Titel wurden ikonisch, etwa der mit US-Präsident Ronald Reagan: Die Hand in der Gesäßtasche der blauen Hose, dazu ein breiter brauner Gürtel, Hemd ohne Krawatte und ein Blick, der in die Ferne schweift. Ein Titel mit Wladimir Putin, geschossen vom Fotografen Platon, wurde zu einem der berühmtesten Porträts des russischen Präsidenten.
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten lockerte sich das Regime der Porträt-Cover allerdings und Symbolhaftes sowie Collagen kamen öfter zum Einsatz. Im Übrigen führt «Time» in seiner Datenbank zu allen historischen Ausgaben auch die Kategorie der schlechtesten Titel. Darunter ist eine Abbildung einer durchgestrichenen japanischen Flagge – es ist die Ausgabe wenige Tage nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki im August 1945.
In den vergangenen Jahrzehnten traf die weltweite Medienkrise auch «Time»: Um die Jahrtausendwende wurde das Medium Umstrukturierungen und Sparmaßnahmen unterzogen, weil Auflage und Werbeeinnahmen zurückgingen. Mittlerweile erscheint es nur noch zwei Mal im Monat. Trotzdem aber hat «Time» eigenen Angaben zufolge heute noch immer eine Million digitale und analoge Abonnenten. Eine Ausgabe des Magazins erreicht demnach bis zu 100 Millionen Menschen weltweit.
«Person of the Year»
«Time» bleibt eine Macht. Nicht zuletzt wegen der zur amerikanischen Tradition gewordenen jährlichen Wahl der «Person of the Year», die die einflussreichste Person – ob nun im guten oder schlechten Sinne – des Jahres ehrt. Dieses meistbeachtete Cover des Jahres hat weltweite Strahlkraft. 1938 wurde Adolf Hitler mit dem Titel ausgezeichnet, die bisher letzte Deutsche war Angela Merkel 2015. 2022 fiel die Entscheidung auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wegen des Widerstandes gegen den russischen Einmarsch in sein Land.
Was für eine Marke das Magazin weiterhin ist, zeigt sich darin, dass US-Präsident Joe Biden Selenskyj die frohe Kunde bei seinem Besuch im Weißen Haus persönlich überbrachte: «Wir haben eine berühmte Sache, die einmal im Jahr stattfindet: wir wählen den «Mann des Jahres» im «Time»-Magazin – Sie waren der «Mann des Jahres» in den Vereinigten Staaten von Amerika. Also willkommen, wir haben viel zu besprechen», grüßte Biden seinen Gast.