Gemeinsam und präventiv gegen Gewalt und Verbrechen
Das Sicherheitsempfinden der Chilenen hat einen negativen Rekord erreicht. Diese Nachricht veröffentlichte das Centro de Estudios en Seguridad Ciudadana der Universidad de Chile im Oktober 2022 – eine Wahrnehmung, die angesichts der Statistik von Straftaten übertrieben erscheint. Mehr Gewalt und die Ausbreitung des Drogenhandels sind aber eine Tatsache. Die Deutsch-Chilenin Dr. Macarena Rau, Expertin für Sicherheit in Städten, sieht vor allem durch die Präventivmethode Crime Prevention Through Environmental Design (CPTED) gute Chancen, der Lage Herr zu werden.
Die Mordrate in Chile ist die niedrigste in Lateinamerika: 3,6 pro 100.000 Einwohner. Lateinamerika macht 9 Prozent der Weltbevölkerung aus, aber rund 30 Prozent aller Morde weltweit werden in diesen Ländern begangen. Zwar hat die Zahl von gewalttätigen Überfällen in Chile zugenommen – allerdings nicht in dem Maße, wie die Angst vor Verbrechen in der Bevölkerung gestiegen ist. Die Stiftung Paz Ciudadana stellte im Oktober fest, dass 28 Prozent der Bevölkerung Angst hat, Opfer eines Überfalls zu werden: der höchste Wert seit 22 Jahren. Gleichzeitig geben 32 Prozent der Befragten an, dass in ihrem Umfeld in den vergangenen sechs Monaten jemand Oper eines Überfalls wurde – der niedrigste Wert in den letzten 15 Jahren. Es sei aber eine neue Form der Kriminalität zu beobachten, die mit mehr Gewalt und der verstärkten Nutzung von Schusswaffen einhergeht.
«Spezifische Herangehensweise» für jeden Ort
«Es gibt aber auch viele positive Nachrichten, die nicht in dem Umfang in den Medien erscheinen wie die negativen», stellt Macarena Rau fest. Die Expertin für städtische Sicherheit leitet seit 2017 als Vorsitzende die International CPTED Association (ICA). Die Nichtregierungsorganisation, deren rund 345 aktive Mitglieder aus 40 Ländern kommen, hat die Methode der Crime Prevention Through Environmental Design (CPTED) entwickelt. Damit wird die Situation einzelner Stadtteile analysiert und diagnostiziert und dann eine Strategie und ein Konzept erarbeitet.
Macarena sieht zum Beispiel das zunehmende Misstrauen in Chile gegen Carabineros und Kriminalpolizei als teilweise ungerechtfertigt an: «Schon vor über zehn Jahren kamen Polizisten auf die ICA zu, um an den Präventivmaßnahmen teilzunehmen. Sie sind sehr interessiert und offen für neue Techniken.»
Wie können Städte gegen Kriminalität vorgehen? «Jeder Ort braucht eine spezifische Herangehensweise», das ist ein Fazit von Macarena Raus Doktorarbeit, die sie im vergangenen Jahr an der Universidad del Bío-Bío in Concepción fertigstellte. Sie untersuchte in Patagonien, in Puente Alto und in Honduras die Auswirkungen von verschiedenen Maßnahmen zur Bekämpfung von Kriminalität. «Es ist die Kombination und die gute Koordination von sozialen Programmen, von Städteplanung, Schul-, Nachbarschafts- und Stadtverwaltung, die zum Erfolg führen: Innerhalb von drei Jahren sind die Überfälle in Puente Alto um 68 Prozent durch diese Art der Vorgehensweise gefallen.»
Drogenkartelle unterwandern Armenviertel
Eine Ursache der wachsenden Kriminalität und Gewalt ist die Zunahme des Drogenhandels in Chile. Der Drogenmarkt funktioniere wie jeder andere Markt in der Wirtschaft, erklärt die Expertin: «Die Drogenbosse versuchen den Markt auszuweiten, neue Produkte, wie synthetische Drogen zu entwickeln.» Bereits vor zehn bis 15 Jahren warnten Experten aus Kolumbien oder Venezuela, dass die Drogenmafia sich auch in Chile verbreiten werde. «Die unkontrollierte Immigration öffnete Tür und Tor», erklärt Macarena Rau.
Besonders gefährdet seien die Armenviertel, in denen Arbeitslosigkeit herrscht, disfunktionale Familien leben und keine gute Schulbildung vermittelt werde. In San Joaquín, in La Legua, habe sie mit einer Frau gesprochen, die Drogen im Wert von 2 Millionen Pesos unter ihrer Matratze verwahrt hatte: Mit keiner anderen legalen beruflichen Tätigkeit könne sie so viel Geld verdienen.
Die Drogenkartelle werben vor allem die jungen Leute damit, dass sie schnell viel Geld verdienen könnten: «Jugendliche in den Poblaciones sehen für sich keine langfristige Perspektive in ihrem Leben. Daher wollen sie sofort ein Auto.»
Wenn staatliche Instanzen nicht mehr ihre Aufgabe in Stadtteilen wahrnehmen, nehme die Gefahr zu. Besonders zwischen Honduras und El Salvador könne man beobachten, wie sich eine regelrechte Bandenkultur entwickelt habe, die sogenannten Maras: «Die Drogenkartelle geben den Jugendlichen, die oftmals auf der Straße leben, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Macht. Dafür werden sie für Auftragsmorde oder den Drogenhandel ausgenutzt.»
Perspektiven aufzeigen
Es gebe aber Hoffnung: Dafür sei es wichtig, die jungen Menschen zu verstehen und ihnen Perspektiven aufzuzeigen. Die Ica habe mit Kindern die Kurse «Educar por la vida» gemacht. Mit der «Técnica Nube de Sueños» zeichneten sie ihre Traum-Schule. «In diesen Bildern konnten wir viele Informatione finden, um unsere Arbeit in diesem Bereich zu verbessern», berichtet Macarena Rau.
Der Drogenhandel habe inzwischen ein weltweites Netz errichtet: «Es ist ein globales Problem, und nicht nur auf ein bestimmtes Land beschränkt.» Vor allem müssten Präventionsmaßnahmen erarbeitet werden, die Hauptaufgabe der ICA, die Macarena Rau seit vier Jahren als Vorsitzende leitet: «Wir haben 345 aktive Mitglieder aus 40 Ländern, das sind Kriminalisten, Verwaltungsbeamte und Unternehmensvertreter. Seit der Pandemie werden die Erkenntnisse und Methoden zunehmend in Webinars oder Konferenzen vermittelt.» Ein Meilenstein sei die Weiterentwicklung der CPTED im vergangenen Jahr gewesen, die nun dem ISO CPTED Standard 22341 entspricht: «Die Evaluierung von Maßnahmen konnte so verbessert und entsprechend effizienter kann gearbeitet werden.»
Macarena Rau empfiehlt bei akuten Pro-blemen von Kriminalität im eigenen Stadtteil vor allem drei Maßnahmen: Als erstes sollten sich die Bewohner zusammentun, um gemeinsam die Situation zu besprechen. Im zweiten Schritt sei es wichtig, die städtischen Gemeinden einzubeziehen, Ansprechpartner zu finden und sich unter Umständen auch an verschiedene hierarchische Ebenen zu wenden. Sie rät auch dazu, Drogenhändler zu denunzieren. Viele Bewohner seien zögerlich, aber es sei wichtig, die Möglichkeit der anonymen Denunziation zu nutzen, um eine Ausbreitung der Drogenmafia zu unterbinden.
Zur Person
Dr. Macarena Rau machte ihr Abitur auf der Deutschen Schule Santiago. Sie studierte Architektur an der Universidad de Chile und absolvierte ihren Master an der Universidad Católica in Santiago. Ihre Doktorarbeit schrieb sie im Fach Stadtforschung (Urbanismo) an der Universidad del Bío-Bío in Concepción.
Im Jahr 2002 trat sie der International CPTED Association (ICA) mit Sitz in Kanada bei und war das erste spanischsprachige Mitglied der Nichtregierungsorganisation. Seit 2004 verbreitet sie von Chile aus die von der ICA entwickelte Methode der Crime Prevention Through Environmental Design (CPTED) in Ländern wie Brasilien, Honduras, Mexiko, Guatemala, Ecuador und Argentinien. Macarena Rau gründete 2008 ihre Beratungsfirma Publika Consulting, die Regierungen, Unternehmen und Organisationen bei der Anwendung der CPTED-Strategien berät.
Im Jahr 2017 wurde die Sicherheitsexpertin zur Vorsitzenden der weltweit tätigen ICA gewählt. Sie veröffentlichte Artikel und Bücher über urbane Sicherheit und war eine der Ersten, die dieses Thema in Lateinamerika und der Karibik bekannt gemacht und sich für Maßnahmen zu einer verbesserten Sicherheit in den Städten verschiedener Länder eingesetzt haben.