Die Wartburg – Entstehungsort von Luthers größtem Werk
Dem Volk aufs Maul geschaut – ganz einfach und doch revolutionär! Mit dieser Methode übersetzte Martin Luther das Neue Testament. Die volksnahe Sprache der Lutherbibel holte die Menschen in ihrem Alltagsleben ab – und prägte das Deutsch, das wir heute noch sprechen und schreiben. Die über Eisenach thronende Wartburg ist daher ein bedeutsamer und magischer Ort: Hier rang der Reformator vor 500 Jahren in der Lutherstube mit jeder Passage und jedem Wort, damit alle Menschen die Heilige Schrift verstehen konnten.
«Ein feste Burg ist unser Gott» – ob Martin Luther beim Schreiben dieses wohl bekanntesten Lieds der evangelischen Kirche an die Wartburg gedacht hat? In den späten Abendstunden des 4. März 1521 kam er hier an, inkognito als Junker Jörg. Nach seiner Kirchenkritik vor Kaiser Karl V. auf dem Wormser Reichstag sollte ihm die Burg Sicherheit bieten. Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen, hatte die vorgetäuschte Entführung ausgeheckt – Luther soll eingeweiht gewesen sein. Kaum auf der Burg angelangt, wurde er für vogelfrei erklärt.
Einsam – aber produktiv
Dennoch hat sich der Reformator, wie man auch bei einer Führung durch die Wartburg erfährt, hier zunächst gar nicht wohlgefühlt haben. Das fette Essen war der Augustinermönch nicht gewohnt und brachte seine Verdauung durcheinander.
In seiner erzwungenen Einsamkeit und Isolation habe der Teufel Luther so gequält, dass er ein Tintenfass nach ihm geworfen haben soll. Zwar wird der blaue Klecks schon lange nicht mehr nachgebessert – doch als Besucher der Lutherstube meint man, ihn immer noch an der Wand zu sehen, dazu ist die Legende einfach zu schön!
Spätestens am 18. Dezember hat Luther seine Schwermut abgelegt und begann mit der Übersetzung des Neuen Testaments. Das Besondere war: Er übersetzte nicht aus der lateinischen Bibel, der Vulgata, und nicht wörtlich, wie es bei den vorherigen Bibelübersetzungen bisher üblich war, sondern aus dem ursprünglichen griechischen Text in eine lebendigen Sprache, die auch die einfachen, ungebildeten Leute verstanden – und die trotzdem die christliche Botschaft wiedergeben sollte. Lieber wäre es ihm gewesen, wie er in einem Brief schrieb: «Wenn doch jede Stadt ihren eigenen Dolmetscher hätte und dies Buch allein in aller Zunge, Hand, Augen, Ohren und Herzen wäre!» Nach einer kurzen Spanne von elf Wochen, bis zum 1. März, hatte er seine Aufgabe abgeschlossen und reiste zurück nach Wittenberg.
«Meine liebe Stadt»
Der zehnmonatige Aufenthalt auf der Wartburg war nicht sein erster in Eisenach. Nachdem er in Mansfeld und in Magdeburg in die dortigen Lateinschulen gegangen war, schickten seine Eltern den 14-jährigen Jungen 1497 nach Eisenach. Zunächst wohnte er bei Verwandten der Mutter, die aus Eisenach stammte, und besuchte die Georgenschule. Der Lateinschüler sang in einer Kurrende, einem Chor, der von Haustür zu Haustür zog, und um einen Obolus bat.
Auch vor dem Haus der wohlhabenden Familie Cotta blieben die Sänger stehen. Die Hausherrin war so angetan von Luther, dass die Familie ihn drei Jahre lang aufnahm. Offenbar erinnerte er sich gerne an diese Zeit zurück und nannte Eisenach später «meine liebe Stadt». Dieses Haus ist heute das älteste und eines der schönsten Fachwerkhäuser Thüringens und beherbergt das Museum Lutherhaus Eisenach.
Vorbild für andere Länder
Anlässlich der 500 Jahre Bibelübersetzung begeht Thüringen 2022 ein Jubiläumsjahr unter dem Titel «Welt übersetzen». Passend auch für ein Thema, das das Museum neu aufgegriffen hat, wie Jochen Birkenmeier, Direktor und Kurator im Lutherhaus Eisenach, berichtet: «Die enorme Wirkung von Luthers volkssprachlicher Übersetzung ging weit über Deutschland hinaus. Er inspirierte die Bibelübersetzer in vielen anderen Ländern Europas, nun in ihren Muttersprachen die Heilige Schrift zu übersetzen.»
Auch in anderer Hinsicht wurden die Bibelübersetzer motiviert, nämlich durch den Verkaufserfolg. Im September 1522 erschien Luthers Übersetzung des Neuen Testaments als Buch, das sogenannte Septembertestament, in 3.000 Exemplaren – und musste sofort nachgedruckt werden. Für damalige Zeiten eine ungeheuer hohe Zahl. Möglich war dies, weil Wittenberg ein Zentrum des Mediengewerbes und die Druckkunst im Aufwind war.
Der reißende Absatz bewies aber auch, dass Luther das gelungen ist, was er wollte: Die Bibel war für die Menschen nicht mehr länger «ein Buch mit sieben Siegeln» – eine von Luthers eigenen Redewendungen. Ein Grund war auch, dass er sich für seine Aufgabe am richtigen Ort befand, wie Jochen Birkenmeier erklärt. Grob konnte man die vielen deutschen Dialekte in drei Sprachgebiete einteilen: den oberdeutschen Raum, zu dem Bayern, Franken, Schwaben und Österreich gehörte, den niederdeutschen, wie Niedersachsen und Westfalen, und in den mitteldeutschen, der unter anderem Sachsen, Thüringen und Hessen umfasste. Luthers Muttersprache lag geografisch und sprachlich in der Mitte. Daher konnte er auch eher in anderen Teilen Deutschlands verstanden werden.
Identität und die deutsche Sprache
Der Reformator ließ es aber nicht bei seiner Bibelübersetzung bewenden. Er war einer der fleißigsten Verfasser von Kirchenliedern. Das hat das Museumsteam bewogen, sich in diesem Jahr Luthers berühmtestem Lied besonders zu widmen: «Ein feste Burg ist unser Gott». Es regt an, darüber nachzudenken, wo man Orientierung findet – gerade in schweren Zeiten. Jochen Birkenmeier hat bemerkt, dass sich immer mehr Menschen, die in die Lutherstadt kommen, die Frage nach ihrer Identität stellen. «Wer bin ich? Wo sind meine Wurzeln?» Die Antwort des Historikers: «Die deutsche Sprache ist das Entscheidende, was uns unterscheidet, aber auch, was uns verbindet.» In diesem Sinne habe Luthers Werk auch ein Stück Heimat geschaffen – eine kulturelle Zugehörigkeit, unabhängig vom geografischen Ort.