Deutscher Ikarus über Patagonien
Er wollte hoch hinaus und stürzte am Ende der Welt tödlich ab: Als erster Mensch überflog Gunther Plüschow 1928 Feuerland und Kap Horn. Gerhard H. Ehlers hat dem Flugpionier und Abenteurer ein Buch gewidmet.
Einige populäre Figuren erlangen erst durch ihren frühen und tragischen Tod den Ruhm der Nachwelt. Das war bei Gunther Plüschow ganz sicher nicht so. Denn als am 28. Januar 1931 sein Heinkel-Doppeldecker aus etwa 300 Metern Höhe in den Brazo Rico, einen Nebenarm des Lago Argentino in Patagonien, abstürzt, ist der 45-Jährige schon längst eine Bekanntheit.
Die Nachricht vom Tod des «Fliegers von Tsingtau» geht um die Welt. Das «Time»-Magazin in New York meldet unter der Überschrift «Ein deutscher Held» den Absturz in Südamerika. Praktisch alle deutschen Zeitungen berichten auf ihren Titelseiten darüber. Die Urnen Plüschows und seines ebenfalls verunglückten Bordmechanikers Ernst Dreblow werden Mitte Mai 1931 unter großer Anteilnahme auf dem Parkfriedhof Lichterfelde in Berlin beigesetzt.
Gunther Plüschow geht in die Geschichte ein als der Mann, der mit einem stoffbespannten, offenen Doppeldecker die erste Luftpostverbindung von Punta Arenas in Chile nach Ushuaia in Argentinien etabliert und mit seinen Reportagen den Deutschen das Ende der Welt nähergebracht hat. Dabei hatten seine fliegerischen Glanzleistungen ihn schon viel früher berühmt gemacht.
Gunther Plüschow wird am 8. Februar 1886 in München geboren. Die Familie lebt zunächst in Rom. Nach weiteren Jahren in Schwerin beginnt er eine Kadettenausbildung in Plön. Es folgt eine Offiziersausbildung bei der Kaiserlichen Deutschen Marine. Zwei Jahre verbringt er auf der «Bismarck», dem Flaggschiff des Kaiserlichen Ostasiengeschwaders. «Die Reisen nach Japan und Indonesien vermitteln ein starkes Gefühl von Freiheit, Exotik und Weite», schreibt Gerhard H. Ehlers über Plüschows Werdegang. «Alles ist so sehr anders als in der Heimat.»
Deutschland erscheint nach der Rückkehr dagegen nur grau und langweilig. Der Oberleutnant zur See bewirbt sich Mitte 1913 um eine Ausbildung zum Flugzeugführer.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wird Plüschow in das deutsche Pachtgebiet Kiautschou mit der Hauptstadt Tsingtau an der chinesischen Ostküste kommandiert. In Kisten verpackt kommen zwei Flugzeuge des Typs Rumpler-Taube per Dampfer Mitte Juli 1914 dort an. Doch während Plüschow bei den Trainingsflügen sicher startet und landet, hat sein Flugkamerad Müllerskowsky weniger Glück: Er stürzt ab, wird schwer verletzt, seine Rumpler-Taube erleidet Totalschaden. Günther Plüschow ist nun der einzige Pilot mit einem einsatzfähigen Flugzeug in der Handelskolonie.
Beinahe täglich hebt Plüschow ab und erkundet von oben herab feindliche Truppenbewegungen. Es kommt zum ersten Luftkampf in der Militärgeschichte Ostasiens und einem der ersten überhaupt. Mit 30 Schuss aus seiner Selbstladepistole bringt er ein japanisches Seeflugzeug zum Absturz. Aber auch der Deutsche gerät immer wieder unter Beschuss und weicht in halsbrecherischen Manövern den Kugeln aus – mit Erfolg. Als Anfang November 1914 die Festung Tsingtau kapituliert und von Japan besetzt wird, fliegt Plüschow seine Taube unter dem Sperrfeuer der japanischen und britischen Artillerie aus der belagerten Kolonie ins neutrale China. Mit einem faustgroßen Loch in der linken Tragfläche legt er eine Bruchlandung hin.
Plüschow gelingt das Unfassbare: Er schlägt sich nach Shanghai durch, passiert unbemerkt alle japanischen Kontrollen und erreicht auf dem Postschiff «Mongolia» in der Silvesternacht 1914 San Francisco. Per Zug geht es weiter nach New York, immer die deutsche Heimat vor Augen. Im Unterdeck eines italienischen Dampfers wähnt er sich fast schon am Ziel. Doch vor Gibraltar stoppt die britische Marine das Schiff. Plüschow wird verhaftet und nach England gebracht.
Hier gelingt ihm ein neues Husarenstück. Plüschow bricht aus dem Gefangenenlager aus. Und obwohl sein Steckbrief in den englischen Zeitungen erscheint, erreicht er London unentdeckt, versteckt sich tagelang in Fischerhütten, schläft in öffentlichen Parks und zwischen Booten am Strand. Nachts klettert er an einer mächtigen Stahltrosse an Bord eines holländischen Dampfers. Nach der Überfahrt dann noch ein Zug nach Berlin – Plüschow ist in Freiheit.
Und er ist berühmt. Die «Berliner Illustrirten Zeitung» veröffentlicht im Dezember 1916 Teile des Kapitels «Die Flucht aus englischer Gefangenschaft» aus dem Buch «Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau». Der Ullsteinverlag verkauft das Werk in wenigen Monaten über 400.000-mal. Der Kapitänleutnant zur See wird zu einem der populärsten Helden des Ersten Weltkriegs.
Mit dessen Ende kommt der berufliche Absturz Plüschows. Zwar stellt ihn 1919 der Ullsteinverlag für den Zeitungsflugdienst Berlin-Weimar an. Doch die Arbeit an Bord eines Doppeldeckers ist nur von kurzer Dauer. Der «Flieger von Tsingtau» muss sich eine neue Beschäftigung suchen und arbeitet zeitweise als Kinoansager im Berliner Vergnügungsareal Lunapark. Er stellt einen kurzlebigen Weltrekord im Dauermotorradfahren auf und muss nach Stunden völlig unterkühlt von der Maschine gehoben werden. Plüschow wird Kapitän auf einer Luxusjacht, steht jedoch bald wieder auf der Straße. Auch die eigene Werkstatt für Motorenreparaturen und ein «Spezialhaus für Motorräder» floppen. Die Inflation hat längst die Einnahmen aus seinem Buch vernichtet.
«Aber er will sich nicht unterkriegen lassen. Er hat Verantwortung für seine Familie und glaubt fest an bessere Zeiten», schreibt Ehlers. Diese brechen 1926 an. An Bord der Viermastbark «Parma» der Reederei Laeisz segelt Plüschow von Hamburg über Kap Horn nach Valdivia. Er bereist den Norden Chiles, Peru sowie Ecuador und kehrt mit umfangreichen Reisenotizen und Filmmaterial nach Deutschland zurück.
Die Anerkennung für sein Buch «Segelfahrt ins Wunderland» lässt Plüschow neue Pläne für eine eigene Südamerika-Expedition schmieden. Der Ullstein-Verlag übernimmt die Kosten für einen hölzernen Kutter, die Firma Heinkel stellt ihm ein Flugzeug zur Verfügung. Am 29. November 1927 verlässt die «Feuerland» die norddeutsche Hafenstadt Büsum mit Kurs auf Punta Arenas. Der Ingenieur Ernst Dreblow begleitet den in Kisten verpackten Doppeldecker auf dem Dampfer «Planet», ebenfalls mit dem Ziel Magellanstraße. Am 23. Oktober 1928 erreicht die «Feuerland» die Stadt im tiefsten Süden Chiles, wo sie als schwimmendes Basislager dient.
Plüschow und Dreblow montieren das Wasserflugzeug Heinkel vom Typ HD 24 W. Und im November hebt der «Silberkondor» erstmals bei Punta Arenas ab. Die beiden überbringen nicht nur die erste Luftpost nach Ushuaia. Sie überfliegen als Erste die Darwin-Kordillere auf Feuerland, das Kap Horn und die Torres del Paine.
Plüschow ist überwältig von Natur und Landschaft: «Aber es nicht diese Stille allein, sind nicht die eisgegürtelten Gebirge, nicht Kanäle, grüne Urwälder, leuchtende Gletscher, die das Feuerland so einzigdastehend in der Welt machen. Es ist erst der Zusammenklang aller dieser Dinge, der Zusammenklang von Meer, grünen Urwäldern und ungeheuren Gletschern (…) Nirgends wieder auf der Erde gibt es diesen Zusammenklang wie hier in Feuerland und etwas nördlicher in Patagonien, es ist eine einzige ungeheure Symphonie von tiefstem Schweigen, ungeheuren Eis- und Gletschermassen.»
Spektakuläre Fotos – zum Beispiel vom Monte Sarmiento – und atemraubende Berichte der waghalsigen Expedition gehen regelmäßig nach Deutschland, wo sie in Illustrierten erscheinen und ein millionenfaches Publikum begeistern. Es entstehen das Buch «Silberkondor über Feuerland» sowie der gleichnamige Film, der am 8. November 1929 im UFA-Theater am Kurfürstendamm in Berlin Premiere feiert. Um beides zu präsentieren und damit Geld zu verdienen, bereist Plüschow ganz Deutschland, hält Vorträge, gibt Interviews. «Der Abenteurer zieht mit seiner mitreißenden Art das Publikum in seinen Bann», schreibt Ehlers. «Jede Vorstellung endet mit brausendem Applaus.»
Doch das alles reicht Plüschow nicht. Der deutsche Ikarus will höher hinaus. Auf den Landkarten Patagoniens sind noch einige Stellen als «inexplorado» vermerkt. Diese unerforschten, weißen Flecken möchte er tilgen und mit seinen Forschungsergebnissen das vollständige Kartographieren dieses Teils der Welt möglich machen. Offenbar beabsichtigt er, seine Erfahrungen bei der Planung von Fluglinien und dem Bau von Flugplätzen der Industrie zur Verfügung zu stellen. Und er muss sich mit seinen Patagonienflügen beeilen, bevor andere «die Früchte deutscher Pionierarbeit» einheimsen, befürchtet Plüschow.
Mitte Oktober 1930 trifft er aus Santiago de Chile kommend in Puerto Bories bei Puerto Natales ein. Gemeinsam mit Dreblow macht er Mitte November den «Silberkondor» wieder startklar. Zur Versorgung seiner Flugexpedition mit Kraft- und Schmierstoff hat Plüschow entlang seiner Flugrouten Depots eingerichtet, Landeplätze in sturmgeschützten Buchten, die der Pilot und sein Bordingenieur auch als Lager nutzen. Das Basislager in Chile befindet sich am Nordufer des Lago Sarmiento de Gamboa, unweit der Torres del Paine. Die anderen beiden weiter nördlich in Argentinien am Largo Argentino und am Lago Viedma. «Von hier aus werde ich weiter nach Norden und Westen in die unbekannten und unerforschten Eisregionen eindringen.»
Bei einem der Flüge wird der Doppeldecker in einen Bergsee geschleudert. «Es war fast ein Absturz», schreibt Plüschow in sein Tagebuch. Und dann zwei Tage später, am 28. Januar 1931, um 10 Uhr: «Wir müssen jetzt starten! Will direkt durchfliegen zum Lager II am Lago Argentino. Ich will hier heraus!» Der Start gelingt. Nicht ganz drei Stunden später stürzt die Maschine ab. Ob es ein technischer Fehler war oder schwere Turbulenzen das Flugzeug destabilisierten, ist nicht geklärt.
Heute erinnern unter anderem Denkmäler an der Absturzstelle und in Ushuaia sowie eine Gedenktafel in Punta Arenas an den einstigen Flugpionier. Gerhard H. Ehlers ist zum ersten Mal Anfang der 2000er Jahre nach Patagonien gereist und unweit des Perito-Moreno-Gletschers auf den Namen Plüschow gestoßen. Aus weiteren Besuchen und Recherchen entstand sein Buch, das mit vielen faszinierenden Fotos und beeindruckenden Bildern sowie Dokumenten die Geschichte des Abenteurers sehr anschaulich erzählt.
Das Vorwort verfasste der deutsche Polarforscher Arved Fuchs: «Plüschow vereinigte die Fähigkeiten, die ein Forschungsreisender brauchte: Er konnte überzeugen, war mutig und durchsetzungsstark.» Aber auch das: «Plüschow war besessen von seinen Vorhaben und ordnete diesem Vorhaben alles unter – selbst die Familie.»
Fuente: IKARUS Books Berlin, Gerhard H. Ehlers 2022