«Die Mauer ist weg!»
Am 9. November 1989 war ich abends im DCB, um für den Cóndor über eine Ausstellungseröffnung zu berichten. Beim abschließenden Cocktail kam plötzlich der bekannte Kunstkritiker Pedro Labowitz mit einem Sektglas auf mich zu: «Wir müssen anstoßen – die Mauer ist gefallen!», rief er mir zu. Verständnislos schaute ich ihn an…
Ich war mit meiner Familie 1987 aus der ehemaligen DDR nach Chile übergesiedelt. Damals gab es weder Internet noch Handys, von Whatsapp ganz zu schweigen. Telefonanrufe nach Deutschland waren sehr teuer und wurden nur bei ganz besonderen Gelegenheiten in der Hauptpost an der Plaza de Armas getätigt.
Als ich an diesem Abend nach Hause kam fragte ich meine Schwiegermutter, ob sie in den Nachrichten etwas über Deutschland gesehen hätte. «Ja, da saßen ganz viele Menschen auf einer Mauer und haben gefeiert.» Ich war sprachlos. Zwar hatte ich die friedliche Revolution verfolgt und wusste auch von der Flucht vieler DDR-Bürger über andere Ostblockländer in den Westen. Aber dass die Mauer gefallen war, konnte ich nicht glauben.
Ich versuchte, über das Telefon meine Eltern in Berlin zu erreichen – die Rechnung würde beängstigend sein, aber ich konnte nicht länger warten. Obwohl es dort mitten in der Nacht war, nahm keiner ab. Am nächsten Tag versuchte ich es erneut. Jetzt waren sie zu Hause. Sie hatten zwar die Abendnachrichten verfolgt, aber die Aussage von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski in der historischen Pressekonferenz vom 9. November 1989 nicht in ihrer ganzen Tragweite erfasst: «Mir ist eben mitgeteilt worden, der Ministerrat der DDR hat beschlossen die Grenzübergänge von der DDR zur Bundesrepublik und Westberlin zu öffnen. Soweit ich weiß gilt diese Regelung unmittelbar.» Das war der Auslöser für den Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs. Sie gingen schlafen, wurden aber durch Nachbarn geweckt, die durch das Treppenhaus liefen und mit ihren Trabis losfuhren. Was sollte das um diese Zeit? Mein Vater schaute aus dem Fenster. «Ihr müsst sofort losfahren – die Mauer ist weg!!!», rief man ihm zu. Also fuhren auch sie los – und verbrachten den Rest der Nacht mit Tausenden Menschen, feiernd und singend. Und mein Vater machte es wie viele andere auch – mit einem kleinen Hammer brach er einige Mauersteinchen ab. Die habe ich bis heute aufbewahrt.
Preisproblem
Einige Tage später fuhren sie nach Westberlin, um sich dort umzuschauen. Das Ziel war die Prachtstraße Kurfüstendamm. Mutter wollte Schaufenster gucken, aber Vater setzte sich lieber ins Café Kranzler. Er bestellte ein Kännchen Kaffee und ein Stück Kuchen. Als die Rechnung kam, war er sicher, dass ein Irrtum vorlag: «Was – fast 10 D-Mark??? Das Kännchen Kaffee kostet 1,20 DDR-Mark, und der Kuchen höchstens 2!», erboste er sich. «Wir haben andere Preise», war die Antwort. Von da an schaute er vor jeder Bestellung in die Speisekarte. Für dieses Mal war allerdings das Begrüßungsgeld von 100 D-Mark etwas geschrumpft.
Souvenirverkauf und McDonald‘s
Die Berliner Mauer hatte mehr als 28 Jahre, vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989, die Stadt geteilt. 329 Tage nach dem Mauerfall wurde dann die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 vollendet: Die DDR trat der Bundesrepublik bei.
Über Weihnachten 1990 besuchte ich meine Eltern. Der erste Weg führte zum Brandenburger Tor, bisher für mich sorgfältig bewachtes Sperrgebiet. Jetzt konnte man plötzlich auf die andere Seite laufen! Ich muss gestehen, dass ich mich immer wieder verstört umschaute, ob denn nicht etwa geschossen würde!
Auch die vielen Verkaufsstände verwirrten mich: Hier wurden russische Uniformen, Ehrenabzeichen der DDR und kleine Büsten von Lenin und Marx als Souvenirs verkauft. Noch schockierender war für mich die Fahrt nach Glashütte, meine Geburtsstadt bei Dresden. Der Zug fährt aus einem Tunnel und hält am Bahnhof. Und was sehe ich direkt gegenüber? Ein riesiges McDonalds-Restaurant mit Leuchtwerbung! Daran muss ich denken, wenn ich den Film «Good Bye, Lenin!» sehe. Die preisgekrönte Tragikomödie aus dem Jahr 2003 erzählt von einer Frau, die im Koma die Wende «verschläft», und ihrem Sohn, der ihr, um sie zu schonen, nach dem Erwachen vorgaukelt, sie lebe nach wie vor in der «alten» DDR. So lange, bis sie durch das Fenster sieht, wie ein Hubschrauber eine überdimensionale Leninstatue abtransportiert…