Eine überraschend klare Mehrheit hat sich gegen die neue Verfassung ausgesprochen. Das Wahlergebnis ist zugleich ein schwerer Schlag für Präsident Gabriel Boric. Dieser versucht nun, einen neuen Verfassungsprozess anzustoßen und hat sein Kabinett umgebildet.
Mit 61,9 Prozent der Stimmen wurde der Entwurf für eine neue Verfassung bei der Volksabstimmung am Sonntag, 4. September, klar abgelehnt. Die Niederlage hatte sich in Umfragen zwar schon abgezeichnet, aber nicht so überaus deutlich. Nur 38,1 Prozent der Wähler stimmte für den Verfassungsentwurf. Damit behält Chile seine aktuelle Verfassung.
Bei dem historischen Referendum herrschte erstmals Wahlpflicht: Mehr als 13 Millionen der rund 15 Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, was einen Rekord bedeutet.
Präsident Gabriel Boric, zog in einer Ansprache am Sonntagabend nach den Wahlen einen eindeutigen Schluss: «Die Chilenen waren nicht zufrieden mit diesem Vorschlag und haben ihn dann an der Wahlurne in klarer Form abgelehnt.» Er erklärte: «Wir müssen selbstkritisch sein.» Seine Regierung und seine Anhänger hatten sich für die Annahme des Verfassungsentwurfs vehement eingesetzt.
Boric betonte: «Chilenische Männer und Frauen haben eine zweite Chance gefordert.» Daher strebt er nun an, «mit dem Kongress und der Zivilgesellschaft einen neuen verfassunggebenden Prozess anzustoßen, der Lehren aus dem alten Prozess zieht, und dem es gelingt, in einem neuen Text die Meinung der breiten Mehrheit der Bevölkerung wiederzugeben».
Schon vor der Abstimmung waren Gespräche aufgenommen worden, auch mit den konservativen Parteien. Von Mitte-rechts sollen positive Signale gekommen sein.
Die Enttäuschung der Befürworter ist groß. Die Verfassung war auch in internationalen Medien als eine der vermeintlich progressivsten und modernsten gefeiert worden. Offensichtlich haben aber die Mitglieder des Verfassungskonvents, mehrheitlich aus dem linken Lager und Unabhängige, nicht die Mehrheit der Chilenen repräsentiert. Kandidatinnen und Kandidaten der etablierten Parteien hatten in der verfassunggebenden Versammlung nicht einmal eine Sperrminorität erreicht.
Das Ansehen der verfassunggebenden Versammlung war aufgrund von Skandalen und extremistischen Ansichten von Konventsmitgliedern gesunken. Als zu weitgehend wurde die zwingend vorgeschriebene paritätische Vertretung von Frauen und Männern im Kabinett, im Kongress und in anderen staatlichen Leitungsgremien empfunden. Ebenso die Autonomie für die rund 13 Prozent Indigenen. Auch einige Vorschriften für den juristischen Bereich wurden kritisch gesehen. So sollte das Verfassungsgericht einige seiner Befugnisse abgeben. Der Senat wurde abgeschafft.
Boric zog Konsequenzen aus seiner Niederlage und gab am 6. September eine Kabinettsumbildung bekannt. Innenministerin Izkia Siches räumte ihren Posten, den Carolina Tohá (Partido por la Democracia) übernahm. Siches war es nicht gelungen, die eskalierende Gewalt im Süden Chiles in den Griff zu bekommen.
Seinen engen Vertrauten Giorgio Jackson, bisher Generalsekretär im Präsidialamt, versetzte Boric ins Ministerium für soziale Entwicklung, und Ana Lya Uriarte (Partido Socia-
lista de Chile) übernimmt das Amt. Auf Claudio Huepe folgte Diego Pardow (Convergencia Social) als neuer Energieminister. Ximena Aguilera (unabhängig) übernahm das Amt der Gesundheitsministerin von Begoña Yarza. Schließlich leitet künftig Silvia Díaz (Partido por la Democracia) statt Flavio Salazar das Wissenschaftsministerium.