«Symbol von Stärke und Freiheit»
Nicht ohne Grund trägt unsere Zeitung den Namen Cóndor. Der Kondor ist für Chile, was für Deutschland der Adler ist. Wenn dieser Vogel seine majestätischen Schwingen ausbreitet und über die Anden fliegt, dann kann kaum einer seinen Blick von diesem Bild abwenden. Diese Faszination empfindet auch Eduardo Pavez für diesen riesigen Vogel. Der Ornithologe setzt sich seit vielen Jahren für seinen Fortbestand ein, da der Kondor bald vom Aussterben bedroht sein kann, wie er uns unten im Interview berichtet.
Was ist die Arbeit und das Ziel des Manku-Projekts und des Programms zum Schutz des Andenkondors in Chile und Argentinien?
Das Manku-Projekt wird von der Union of Ornithologists of Chile und der MERI-Stiftung geleitet. Es wird auch vom Centro de Rehabilitación de Aves Rapaces de Talagante (CRAR), Rewilding Chile (ehemals Tompkins Conservation) und dem Zoológico Nacional unterstützt. Nur wenn sich ergänzende Kräfte bündeln und ein gemeinsames Ziel verfolgen, ist es möglich, in großem Maßstab und über einen langen Zeitraum hinweg erfolgreich zu arbeiten. Das Ziel des Manku-Projekts ist die Erforschung und Erhaltung des Andenkondors in Chile. Da die Kondorpopulation in Chile und in Argentinien lebt, ist es wichtig, zu kooperieren, und wir tun dies im Rahmen des binationalen Programms zum Schutz des Andenkondors zwischen Chile und Argentinien, das in Argentinien von der Fundación Bioandina Argentina geleitet wird. Alles, was mit den Kondoren auf der einen Seite des Gebirges geschieht, wirkt sich auf die andere Seite aus. Kondore kennen keine politischen Grenzen, sie wandern über große Entfernungen und wechseln ständig von einer Seite des Gebirges zur anderen.
Warum ist die Rehabilitation von Kondoren wichtig?
Einer der Aspekte unserer Arbeit ist die Rehabilitation von Kondoren. Der Servicio Agrícola y Ganadero schickt uns Kondore aus ganz Chile, die aus verschiedenen Gründen verletzt wurden, und wenn möglich, werden sie rehabilitiert und an ihrem Ursprungsort freigelassen. Einige der Kondore, die wir aufnehmen, haben Verletzungen, die ihre Rehabilitation unmöglich machen. Sie sind aber sonst gesund und können sich fortpflanzen. Daher werden sie für die Zucht verwendet und ihre Nachkommen lassen wir wieder frei. Kondore haben von Natur aus kleine Populationen, extrem niedrige Reproduktionsraten, eine sehr geringe natürliche Sterblichkeit und eine hohe Lebenserwartung. Sie sind daher eine Art, die sehr empfindlich auf eine erhöhte Sterblichkeit durch menschliche Eingriffe reagiert, was zu einem Rückgang ihrer Populationen und einer nur sehr langsamen Erholung führt. Diese Umstände bedeuten: Der ökologische Wert jedes einzelnen Vogels und insbesondere der von Brutpaaren ist sehr hoch. Aus diesem Grund ist es bei Arten mit den Eigenschaften des Kondors wichtig, die Rehabilitation jedes einzelnen Exemplars zu erreichen.
Können Sie kurz sagen, wie Sie mit Ihrer Arbeit mit Kondoren begonnen haben, wie CRAR entstanden ist und wie sich bei Ihnen eine Leidenschaft für den Andenvogel entwickelt hat?
Seit meiner Kindheit habe ich eine intensive Beziehung zu Vögeln. Ich hatte die Schule noch nicht beendet, als ich begann, Greifvögel zu rehabilitieren. Zusammen mit Freunden bauten wir in meinem Haus in Las Condes große Käfige und versuchten, Raubvögel zu rehabilitieren, die wir aus verschiedenen Orten gerettet hatten. Die Arbeit wurde immer anspruchsvoller und wir brauchten mehr Platz. Dank der Großzügigkeit des Tierarztes Jürgen Rottmann konnten wir die Rehabilitationsarbeiten auf sein Grundstück in Talagante verlegen. Ein Jahr später, 1991, erkannte die SAG unser Zentrum, das CRAR, als das erste Rehabilitationszentrum für Wildtiere in Chile an. Damals war das Zentrum dank der Unterstützung des Schweizer Professors Guillermo Egli rechtlich der Union of Ornithologists of Chile unterstellt. Parallel dazu begannen wir, weite Teile der Gebirgsketten Zentralchiles und Patagoniens zu erkunden und Kondore zu beobachten und zu fotografieren. 1993 erhielten wir den ersten Kondor im CRAR, und seither hat die Arbeit nicht aufgehört. Heute arbeiten wir bei CRAR mit 30 Kondoren, und insgesamt waren es 200 Kondore. In diesen 30 Jahren Arbeit mit den Kondoren hat das gesamte Team viele verschiedene Anekdoten, Herausforderungen und Erfolge erlebt – alle diese Erfahrungen, ob gut oder schlecht, sind ein Schatz an Wissen und Erfahrungen, genug, um ein Buch zu schreiben.
Was macht den Kondor in Chile so bedeutsam, was ist das Charismatische an ihm, warum ist er wichtig für die Natur?
Der Kondor im Flug ist so imposant und schön, dass er eine enorme Ausstrahlung hat und
praktisch jeder davon berührt wird, weshalb sein Bild tief in der chilenischen Kultur verwurzelt ist – sowohl im guten wie im schlechten Sinne. Seit Jahrhunderten betrachten Viehtreiber den Kondor als Feind ihrer Tiere und schreiben ihm die Fähigkeit zu, Kälber und Lämmer zu töten, was zu seiner Verfolgung mit Fallen, Schusswaffen und Giften geführt hat. Der Kondor ist jedoch ein Geier, das heißt, er ernährt sich von Aas, und wie alle aasfressenden Vögel kann er ausnahmsweise auch lebende Beute angreifen, aber diese Ausnahmen rechtfertigen weder die Verfolgung noch eine negative Sichtweise. Im Gegenteil: Der Kondor ist ein großer Verbündeter der Landwirte, da er durch die Beseitigung der Tierkadaver, von denen er sich ernährt, eine wichtige Rolle bei der Säuberung der Natur spielt. Im Gegensatz zu denjenigen, die ihn als Feind oder einfach nur als Jagdziel betrachten, gilt der Kondor für die Andenkulturen als heiliges Tier und für die Chilenen als Symbol für Stärke und Freiheit, das auf Münzen, Medaillen, militärischen Symbolen und im Staatswappen abgebildet ist.
Was ist für Sie persönlich das Besondere am Kondor?
Für mich war der Kondor, wie die Adler und viele andere Arten unserer Fauna, ein Weggefährte, ein Freund, mit dem wir in diesem flüchtigen Augenblick, der das Leben ist, zusammenkamen. Es ist nicht so, dass ich mich entschieden habe, einen wichtigen Teil meines Lebens dem Studium von Adlern und Kondoren zu widmen, oder dass ich finde, dass sie etwas Besonderes gegenüber anderen Arten haben. Nein, für mich haben die biologische Vielfalt und ihre Landschaften alle etwas mit der ästhetischen und funktionalen Schönheit der natürlichen Welt zu tun. Kondore sind einer dieser seltsamen Zufälle, die das Leben einem vor die Nase setzt und die den Lebensweg prägen, falls es sie wirklich gibt.
Wie hat sich die Zahl der Kondore in Chile entwickelt und wie ist ihre allgemeine Situation? Welche Bedrohungen gibt es?
Es gibt keine genauen Bestandsschätzungen für den Kondor in Chile. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass ihre Dichte in den letzten Jahrhunderten zurückgegangen ist. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie an den Küsten Nordchiles als häufig beschrieben, heute sind sie sehr selten. Mitte des 20. Jahrhunderts brachen die Walpopulationen zusammen, und Kondore verzehrten viele der an den Küsten gestrandeten Kadaver. Ihre wichtigste natürliche Nahrungsquelle in terrestrischen Ökosystemen war das Guanako, das in weiten Teilen des Gebiets verschwunden ist. Heute lebt der Kondor hauptsächlich von den Überresten der extensiven Viehzucht, einem Produktionssystem, das ebenfalls im Verschwinden begriffen ist. Hinzu kommen Bedrohungsfaktoren wie die Jagd mit Schusswaffen und der Einsatz von Giften, die den Bestand zweifellos verringert haben. Trotz ihres wahrscheinlichen Bestandsrückgangs sind die Kondorpopulationen, die sich Chile und Argentinien befinden, die größten in den gesamten Anden. In Chile konzentrieren sich 70 Prozent der Kondorpopulation in den Regionen Aysén und Magallanes, das heißt in der patagonischen Kordillere. Die andere wichtige Kernregion Chiles, wenn auch mit wesentlich weniger Vögeln, ist in Zentralchile: Zwischen den Regionen Coquimbo und Maule konzentriert sich 20 Prozent der Population dieses Vogels in Chile. In Chile ist der Kondor als nahezu bedroht einzustufen, was bedeutet, dass er bald vom Aussterben bedroht sein wird, wenn die derzeitige Bestandsentwicklung und die Bedrohungsfaktoren anhalten.
Wie hat sich die Pandemie auf diese Vogelart ausgewirkt? Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass Kondore auch in privaten Gärten gesichtet wurden?
Die Pandemie hat keine offensichtlichen Auswirkungen auf den Kondor gehabt. Kondore werden immer häufiger in Stadtrandgebieten von Santiago gesichtet, was auf die Ausdehnung der Stadt in Richtung der Voranden zurückzuführen ist. Die Hänge wurden bebaut und bilden heute künstliche Klippen, die den Start- und Landeanflug der Kondore begünstigen. Darüber hinaus wurden in einigen dieser Gebäude Kondore gefüttert, was zu einer gefährlichen Gewöhnung der Kondore an den Menschen führt. Städtische Gebiete bergen Risiken für Kondore, insbesondere wegen möglicher Kollisionen während des Flugs mit Drähten, Fenstern oder anderer Infrastruktur. Diese Situationen sowie das Eindringen von Pumas und anderen Wildtierarten in die Stadt sind jedoch sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für die Bürger, einen angemessenen Umgang mit der immer zahlreicher werdenden städtischen Tierwelt zu lernen.
Hat sich das Wissen über diese Vögel verbessert, hat die Aufklärung in den Schulen über den Kondor das Verständnis verändert?
In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien über den Kondor durchgeführt, die es uns
ermöglicht haben, unsere wissenschaftlichen Kenntnisse über ihn erheblich zu verbessern. Wir haben auch viel für die Verbreitung in den Medien und in den Schulen getan, um diese manchmal etwas komplexen wissenschaftlichen Erkenntnisse in einfache Worte zu fassen, die auch emotional ansprechen. Im Rahmen des Manku-Projekts arbeiten wir intensiv mit Kindern in ländlichen Gemeinden in den Gebieten, in denen wir Vögel freilassen, und vermitteln durch das charismatische Bild des Kondors die Botschaft des Naturschutzes. Die Wahrnehmung der Natur und der Umgang mit ihr haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Heute wächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines harmonischeren Verhältnisses zu unserer natürlichen Umwelt. In diesem Sinne ist der Kondor für uns eine Speerspitze, die es uns ermöglicht, die Botschaft des Naturschutzes im weitesten Sinne zu
vermitteln.
Ist es möglich, dass Menschen, die nichts mit dem Kondor und den Projekten zu tun haben, zum Schutz und zur Erhaltung dieser Vogelart beitragen können?
Man muss kein Kondor-Experte sein oder gar direkt an einem Programm zum Schutz für Kondore oder einer anderen wildlebenden Art mitarbeiten, um zur Erhaltung dieses großen amerikanischen Geiers beizutragen. In der Natur ist alles miteinander verbunden, und alles, was wir tun, um harmonischer mit der Natur umzugehen, wirkt sich direkt oder indirekt auf die Erhaltung des Kondors aus. Wenn jemand einen Beitrag zum Manku-Projekt leisten möchte, sind wir dafür ganz offen. Unseren Kontakt findet man auf der Internetseite www.aveschile.cl