Auf steilen, schlammigen und schaurig-schönen
Die deutsche Musiklehrerin Ulla Bartels kam 1954 nach Chile. Im ersten Teil ihrer Aufzeichnungen (Cóndor vom 29. April) erzählte sie über die Wanderung mit der befreundeten Kollegin Bärbel und ihrem Chef ab Polincay zu Fuß durch den Urwald bis Cochamó, wo sie erschöpft ein Hotel erreichten.
Es befindet sich noch ein Gast im Hotel, der sich sehr über unsere Ankunft freut. Es ist Oscar Muñoz, ein Verbannter. In Santiago herrscht im Moment Ausnahmezustand, und aus irgendeinem unersichtlichen Grund, ist don Oscar verbannt worden. Der Capitano meint, er sei der kleine Fisch, den man fängt, während man die großen laufen lässt.
Ritt zum Fundo von Friedel Reichert
27.12.1954 Der Capitano und don Oscar bemühen sich darum, Pferde zu bekommen. Wir wollen bis zum nächsten Ziel reiten, Cayutue am Lago Todos los Santos. Don Oscar will mitkommen. Bärbel und ich haben viel Zeit, die zauberhafte Fjordlandschaft zu genießen. Wir sitzen stundenlang auf einer Steininsel im Meer. Hier können wir die Landschaft förmlich einatmen. Der Ort strahlt eine Ruhe und Stille aus, die es wert ist, dorthin verbannt zu werden. Über allem thronen die zwei Gipfel des Yates, schneebedeckt.
Wir verlassen unsere Insel und gehen mit auf Pferdesuche. Kleine Mädchen des Dorfes schließen sich uns an und bestaunen uns Gringas. Ein Gringo ist das, was man in Nordamerika ein Greenhorn nennt. Die kleinen Mädchen singen chilenische Lieder und ich bin stolz, einige mitsingen zu können.
Am Abend fahren wir mit einem Fischerboot hinaus. Bei Dunkelheit, Nebel und Ebbe mit Wellengang kommen wir zurück. Schaurig-romantisch.
28.12.1954 Um 7.30 Uhr Pferdegetrappel. Hurra, wir haben fünf Pferde: für uns drei, Don Oscar und Señor Morales, den Besitzer, der sie wieder nach Cochamó zurücknehmen wird. Die Pferde sollen sehr zahm sein und ihren Weg im Schlaf finden. Meins träumt aber vom Heimweg und läuft bald in Richtung Cochamó zurück. Ich sitze zum ersten Mal auf einem Pferd und weiß absolut nicht, was ich mit dem Tier anfangen soll – zum Gaudi meiner Begleiter. Bald kann ich es aber führen und es läuft, wohin und wie es soll.
Wir reiten ausgesprochene Viehwege, halsbrecherisch. Mal geht es steil hin-auf, dann wieder hinunter, mal durch Schlamm, in einem Flussbett, so dass die Pferde bis zum Bauch im Wasser laufen. Mal muss man den Kopf einziehen, damit er nicht an einem umgekippten Baum stößt, mal in einem Engpass die Beine hochnehmen.
Der Urwald hat uns aufgenommen. Wie soll ich das nur beschreiben! Bäume, Sträucher, Quila – das ist Bambus, Schlingpflanzen. Und das alles elf Stunden lang, davon neun auf dem Pferd. Zuletzt tun mir die Knie so weh, dass ich, als es abwärts geht, nach vorne rutsche. Ich muss absteigen. Das Schlimme ist, dass ich im ersten Augenblick kaum laufen kann.
Am Cayutue-See angekommen, muss Herr Morales den richtigen Weg suchen. In Scharen stürzen sich die Tábanos auf uns. Das sind hummelähnliche Bremsen. Wir haben unsere liebe Not, sie von unseren Pferden wegzuwedeln und sind froh, dass Herr Morales den Weg bald gefunden hat. Wir kommen durch ein Viehgatter, und da steht auch schon ein Haus und der Weg wird besser. Auf einmal riecht es brenzlig. Ein Urwaldbrand? Plötzlich schreit Bärbel: «Morales brennt!» Tatsächlich, er brennt, jedenfalls qualmt es tüchtig aus seiner Jackentasche. Er hatte nämlich seine brennende Pfeife in sie hineingesteckt.
Endlich sind wir da, auf dem Fundo von Friedel Reichert am Lago Todos los Santos. Fundo ist ein Gut. Wir dürfen uns nun menschlich machen und nehmen zuerst ein heißes Bad. Der Fundo hat eine eigene Turbine. Sie wird um 23 Uhr abgestellt.
Mit dem Dampfer zur Sylvesterfeier
29.12.1954 Ein Faulenzertag an der Playa, Strand. Man badet, sonnt sich. Und wehrt sich gegen die Tábanos. Ein Feuerchen, das ordentlich raucht, hilft dagegen. Aber noch besser ist es, sich flach hinzulegen. Die Biester merken nicht, dass da jemand liegt. Morales und Muñoz reiten zurück nach Cochamó. Am Abend sitzen wir am Lagerfeuer und singen.
30.12.1954 Es geht zum nächsten Ziel. Eine Lancha, ein Motorboot, bringt uns zum Fundo von Ohmes. Der See hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vierwaldstättersee. Das Wasser schimmert smaragdgrün, und er heißt daher auch Lago Esmeralda. Wir werden freundlich empfangen. Zwei Kinder von Ohmes besuchen unsere Deutsche Schule in Puerto Montt. Sie wohnen dort in Pension, denn es ist eine Tagesreise bis dahin.
31.12.1954 Wir sollen heute zur Sylvesterfeier auf dem Chilcón sein. Es gibt aber keinen Weg um den See herum, nur Wald, steile Berge und Vulkane. Herr Ohme fährt uns mit einem Außenborder zu der Insel Margarita. Dort steht ein rundes Haus der Familie Roth. Ein Mann rudert uns bald hinaus auf den See zu dem vorbeikommenden Dampfer, der «Esmeralda», in den wir hinübersteigen.
Unterweges hält das Schiff ab und zu, um Passagiere aus- oder einsteigen zu lassen. Leider kommt kein Boot vom Chilcón heraus, aber eines von Puerto Arenas ist da und bringt uns an den Strand vom Landsitz des ehemaligen Direktors der Deutschen Schule in Osorno, Herrn Otto Urban.
Wir müssen uns dem Chilcón bemerkbar machen. Unser Capitano nimmt einen Spiegel und blinkt hinüber. Als die Sonne nicht mehr scheint, wird am Strand ein Feuer gemacht, in der Hoffnung, dass der Rauch drüben gesehen wird. Der Chilcón liegt fünf Kilometer von uns entfernt. Nach einiger Zeit kommen auch von dort Blinkzeichen. Wir sehen, dass ein Boot abfährt, um uns zu holen. Es ist Oscar Bade, einer der Besitzer des Fundos. Er lebt dort mit seiner Frau Agnes und seiner Schwester Olli. In den Sommerferien füllen sich ihre Häuser mit Verwandten und Gästen.
Unsere Koffer sind schon am Tag vorher von Puerto Montt angekommen. Wir Urwaldwanderer verwandeln uns in Festgäste. Im Kaminzimmer erleben wir eine kleine Weihnachtsfeier. Kinder sitzen auf Fellen um den Kamin und wir singen Weihnachtlieder. Nach dem Abendessen beginnt der Sylvestertrubel. Es wird getanzt. Der Verwalter ist Ukrainer und führt einen Kosakentanz vor. Um 12 Uhr wünschen wir uns alle ein frohes neues Jahr mit einem Abrazo.
1.1.1955 Richtiges Ferienprogramm. Wir unternehmen einen Ausflug zu einem Wasserfall. Dafür fahren wir mit der Lancha zu einer verträumten kleinen Bucht, dem Rincón. Es geht zu Fuß weiter bergauf über Wiesen und dann in den Urwald. Wir balancieren über eine schaukelnde Hängebrücke, wie man sie in Abenteuerfilmen sieht, und bald sind wir am Wasserfall, der ganz versteckt liegt. Die sprühenden Wassertropfen leuchten in allen Regenbogenfarben.
3.1.1955 Leider heißt es Abschied nehmen. Wir werden mit der Lancha über den See gefahren und steigen in die Esmeralda, die uns nach Petrohué bringt. Von dort geht es mit einem Bus, Góndola genannt, nach Puerto Varas und weiter nach Puerto Montt.