In der Kunst die eigene Seele treffen
In Puerto Varas lässt Moira Meyer einen Künstlertraum wahr werden. Sie gründete dort die Escuela de Bellas Artes, wo seit 20 Jahren Schülerinnen und Schüler in ihrem Atelier ausgebildet werden und sich ausprobieren dürfen. Besonders begeistert die Malerin das künstlerische Schaffen gemeinsam mit behinderten jungen Menschen.
«Alles begann gefühlt, als ich mich als dreijähriges kleines Mädchen auf dem weitläufigen Grundstück meiner Großeltern in der Nähe von Chillán verlief. Eine ganze Nacht war ich verloren in der Wildnis. Ich hatte Angst. Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung auf dem Erdboden ein. Ich schlief fest verbunden mit der Erde. Als ich am Morgen aufwachte, hörte ich die Schritte eines Polizisten. Alle hatten mich schon für tot erklärt. Doch sie hatten mich gefunden, und ich lebte», erzählt die heute 56-Jährige. Es sei ein einschneidendes Erlebnis gewesen, fährt sie fort, und fortan habe sie anders auf die Dinge geblickt. Sie habe sich sehr verbunden und getragen gefühlt: Plötzlich sei alles Kunst für sie gewesen.
Mit deutschen Wurzeln väterlicherseits und schottischen mütterlicherseits ist sie von Haus aus international aufgestellt. Ihr Urgroßvater Heinrich Meyer stammte aus Hamburg. Geboren wurde Moira Meyer in Viña del Mar. Dort ging sie in die Deutsche Schule und studierte an der Escuela de Bellas Artes im Fach Malerei. Sie berichtet: «Schon in der Schule, wo besonders Sport und Kunst hochgehalten wurden, konnte ich vollkommen in die Malerei versinken. Wir hatten die besten Materialien. Alles war in Fülle vorhanden. Ich konnte reichlich experimentieren.»
Im zweiten Jahr ihres Studiums hat das Schicksal sie nach Stockholm geführt. Der chilenische Künstler Walter Duhalde bot an, sie zu unterrichten. Sie habe gerade in Bellas Artes ein Selbstporträt gemalt, als Walters Sohn zufällig vorbeikam. Er war damals für den Verkauf der Werke seines berühmten Vaters unterwegs. Beeindruckt von Moira Meyers Talent, lud er sie ein, seinen Vater kennenzulernen. Sie erlernte in der Folgezeit bei Duhalde die Maltechnik von Rembrandt, zunächst in Santiago. Dann zog sie nach Schweden, um in Stockholm im Atelier von Duhalde weiterhin kreativ zu sein. «Ich habe viele gute Lehrer gehabt und konnte durch sie meinen eigenen Stil finden», stellt die Künstlerin fest.
Neben der professionellen Malerei widmete sie sich der kommerziellen Kunst und malte rund 700 Bilder in einem Jahr, die alle sofort verkauft wurden. Irgendwann sei ihr dabei langweilig geworden, bemerkt sie. Nach zwei Jahren Stockholm kehrte sie zurück nach Chile und beendete ihr Studium an der Escuela de Bellas Artes. Nach ihrem Abschluss begann sie Malereikurse in Valparaíso zu geben. «Zu unterrichten bereitet mir große Freude. Kunst ist für jeden eine Option, die eigene Seele zu treffen. Man muss sich nur trauen», legt sie dar, «sich kleiden, lachen, was auch immer – fast jede Handlung ist am Ende Kunst.»
Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann zog sie mit ihrer Tochter in den Süden, nach Puerto Varas. Dort lernte sie ihren jetzigen Partner kennen. Mit dem Dichter hat sie eine zwölfjährige Tochter, die das Downsyndrom hat. Es sei ein Zusammenleben, das sie täglich bereichere, wie Moira erzählt: «Seit der Geburt von Teodora hat das Leben einen völlig anderen Verlauf genommen, als alles, was wir als Menschen erwarten, was wir anstreben, wenn wir uns eine Elternschaft wünschen. Alle Strukturen wurden aufgelöst, um dem zu weichen, was das eigentlich Wesentliche ist, der bedingungslosen Liebe, diesem vor uns liegenden Leben mit seinem Geheimnis und seinen Überraschungen und der ganzen Kraft, zu der man fähig ist, wenn man Widrigkeiten als große Chance begreift.» Teodora spielt Geige und macht rhythmische Tanz-Gymnastik, in der sie 2020 bei einem internationalen Wettbewerb eine Medaille gewann.
Bereits ihr erster Schüler vor 22 Jahren war ein Junge mit Schizophrenie, dann seien noch einige andere dazugekommen: «Alle wurden in den Unterricht aufgenommen, ich verliebte mich in sie, sodass ich meine Tochter als einen Preis betrachte.» In Puerto Varas hat Moira mit Unterstützung der Stadtverwaltung eine Kunstschule gegründet, die mittlerweile über ein eigenes Gebäude verfügt: «Jeder darf bei uns mitmachen. Im Moment arbeite ich mit 14 jungen Menschen, die eine Behinderung haben. Sie sind so frei – sie zeigen mir, wie ich jegliche Angst verlieren kann. Ihre inneren Welten sind unendlich. Es ist wunderbar, mit ihnen zusammenzuarbeiten.»
Die Malerei sei eine einsame Kunst, erzählt sie, deshalb sei ihre Arbeit mit den Schülern ein guter Ausgleich. In Zukunft möchte die Künstlerin gerne das Restaurieren von Gemälden der chilenischen Maler der Generación del 13 praktizieren. Bisher restaurierte sie autodidaktisch.
Im Jahr 2018 gewann Moira Meyer den Hauptpreis für Malerei bei dem Wettbewerb «Mar Austral» der Corporación de Patrimonio Marítimo de Chile. Ihre Bilder werden in einer Dauerausstellung in Talcahuano gezeigt.
Das Meer, «el Mar Austral», spielte übrigens eine besondere Rolle in der Vergangenheit ihrer Familie. «Mein Urgroßvater kam mit seiner Frau aus Hamburg auf einem Segelschiff nach Chile. Sie ging allein hochschwanger in Ancud auf Chiloé von Bord, um dort das Kind zu bekommen. Mein Urgroßvater segelte weiter und ist vor der Küste mit seiner Mannschaft untergegangen. Meine Urgroßmutter kehrte nicht wieder nach Deutschland zurück.» Die Malerei erfüllt durch und durch Moira Meyers Leben.