Die Adelige, die sich für keine Arbeit zu schade war
Am 17. Dezember feierte Augusta Leibbrandt, geborene von Neefe und Obischau, im Kreis ihrer Familie ihren 100. Geburtstag. Ihr Sohn Jürgen Leibbrandt hat ihren Lebensweg beschrieben, der vom Zweiten Weltkrieg und der Emigration von Deutschland nach Chile geprägt war.
Augusta von Neefe und Obischau Laukschas wurde am 17. Dezember 1921 in Schaulen in Litauen geboren. Ihr Vater Karl und ihre Mutter Bronislava hatten fünf Kinder. Augusta ist die Älteste, gefolgt von Hans, Jochen, Helga und Karin. Sie besuchte die Schule in Sagan und Bunzlau im ehemaligen Schlesien, dem heutigen Polen.
Hochzeitskleid aus Fallschirm
Am Zweiten Weltkrieg nahm Augusta ab 1940 beim Roten Kreuz in Gießen teil, 1941 wurde sie nach Bordeaux in Frankreich versetzt, 1942 war sie in Rowno an der russischen Front stationiert. Sie kehrte nach Gießen zurück, kam 1944 nach Paris und Anfang 1945 nach Husum an der Nordsee in Schleswig-Holstein. Hier lernte sie Reinhold Leibbrandt kennen, der ihr Vorgesetzter in der militärischen Abhörzentrale für die V1- und V2-Raketenstarts wurde. Sie heirateten am 24. Mai 1945 in Munkbrarup. Den Gottesdienst hielt ein Militärpfarrer und das Hochzeitskleid war aus einem ausrangierten Fallschirm gefertigt.
Nach dem Kriegsende wurden sie zu Kriegsgefangenen in der britischen Besatzungszone. Sie lebten in den ersten Jahren in der Besatzungszone in Nindorf in Schleswig Holstein in einem Zimmer im ersten Stock eines Bauernhauses. Reinhold arbeitete als Landarbeiter und Augusta bastelte Spielzeug aus den Abdeckungen und anderen Teilen von Wracks von Militärfahrzeugen. Ich wurde dort im Februar 1947 geboren. Dann zogen sie nach Unterweissach bei Stuttgart, von wo aus die Vorfahren vieler von uns hier 1817 nach Russland ausgewandert waren. Dort kamen sie nach der Vertreibung durch das kommunistische Regime wieder zusammen, nachdem sie 128 Jahre lang über mehrere Generationen hinweg in Hoffnungstal (in der heutigen Ukraine) gelebt und gearbeitet hatten. Alexander wurde 1948 in Unterweissach geboren.
Neuanfang in Frutillar
Auf der Suche nach einer neuen Zukunft, nachdem sie alles verloren und das vom Krieg zerstörte Deutschland und die kommunistisch beherrschte Ukraine hinter sich gelassen hatten, wanderten sie 1951 nach Chile aus. Dort wurde Reinhold durch die Vermittlung des Lutherischen Weltbundes eine Stelle als Lehrer an der Deutschen Schule in Frutillar angeboten. Es handelte sich um einen Vertrag als Ortslehrkraft unter zunächst prekären Bedingungen, die sich erst einige Jahre später, als die Lehrer aus Deutschland einen Vertrag von der deutschen Regierung erhielten, wesentlich verbesserten.
Und mit ihrer ganzen Familie. Auch vom Cóndor herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag nachträglich! Die Jubilarin mit ihren Kindern Alexander, Elisabeth und Jürgen
Die Reise begann im November 1950 in Hamburg auf einem Schiff voller Auswanderer, das nach Buenos Aires, in die Neue Welt, fuhr. Mitten auf dem Ozean fiel der Motor des Schiffes aus, und man musste über eine kleine Gangway auf ein anderes Schiff umsteigen. Von der argentinischen Hauptstadt aus ging die Reise mit dem Zug weiter nach Mendoza und Los Andes in Chile, dann nach Santiago für die Formalitäten, danach nach Osorno und schließlich nach Frutillar. Reinhold traf Vorkehrungen, damit auch seine Verwandten und Kriegsflüchtlinge nach Chile auswandern konnten, daher der Halt in Osorno. Und so fanden die Familien Harsch, Wall, Fichtner, Leibbrandt und andere eine neue Heimat in diesem schönen Land.
Als Augusta in Frutillar ankam, war sie gerade erst 30 Jahre alt, sah sehr gut aus und hatte «blaues Blut», was die Aufmerksamkeit der «Launaer» Bauern auf sich zog. In Frutillar wurde Elisabeth geboren. Die Anfänge waren für niemanden einfach. Um das Familienbudget aufzubessern, gab Augusta Französischkurse in der Schule und nahm Kostgänger in ihrem Haus auf. Außerdem hatte sie einen Gemüsegarten, Hühner und ein Schwein, das vor dem Winter geschlachtet wurde. Die Produktion von Honig mit Dutzenden von Bienenstöcken bei den Feldern bei Frutillar trug ebenfalls zum Haushaltseinkommen bei.
Das Internat der Deutschen Schule in Pilauco
In Frutillar wurden wir von dem Erdbeben im Jahr 1960 überrascht, als wir alle auf die Straße gingen und sahen, wie der See hunderte von Meter zurückging und dann wieder zu unseren Füßen lag. Wegen der starken Erdschwingungen konnte niem and aufrecht stehen. Wochenlang schliefen wir alle im ersten Stock des Hauses im Wohnzimmer, verängstigt durch die ständigen Nachbeben. Später zogen wir in einen Teil des ersten Stocks der Schule und dann in ein Haus, das Frida Werner gehörte, im Norden der Stadt. Ich erinnere mich, dass wir an technischen Geräten nur ein gebrauchtes Fahrrad und ein kleines RCA Victor-Radio hatten – kein Auto, kein Telefon und keinen Kühlschrank.
Im Jahr 1963 zogen Augusta und Reinhold nach Osorno, wo sie beide eine Stelle im neu gegründeten Internat des Colegio Alemán in Pilauco fanden. Augusta half bei der Verwaltungsarbeit. Reinhold wurde Internatsleiter, eine Aufgabe, die er bis 1975 übernahm.
Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin und verlor uns im Sommer beim
Schwimmen am Strand von Frutillar immer aus den Augen. Die Aufregung über das lange Schwimmen war so groß, dass man sie bat, näher am Ufer zu bleiben, um die Nachbarn nicht zu beunruhigen. Sie war fasziniert von den heißen Quellen, und so verbrachten wir in den 1950er Jahren immer eine Woche Urlaub bei den Quellen von LLancahué. Augusta liebte es zu lesen und war auch eine Musikliebhaberin. Viele Jahre lang war sie eine treue Teilnehmerin an den Musikwochen in Frutillar.
Sie widmete ihr ganzes Leben ihrer Familie, zog unsere drei Kinder auf und erzog sie, half Elisabeth mit ihren Mädchen. Sie hatte eine sehr schwere Zeit, als Reinhold 1975 halbseitig gelähmt wurde und sich nicht mehr selbst versorgen konnte. Ab 1976 lebten sie in Deutschland, wo ihr Mann bis zu seinem Tod im Jahr 1981 in Müllheim treu gepflegt wurde. Heute ruht seine Asche auf dem Friedhof in Frutillar.
Das Spinnrad – ein wichtiges Familienerbstück
1991 kehrte Augusta nach Chile zurück. In den Sommerferien fuhr sie immer mit uns aufs Land und liebte die Gartenarbeit. Im Jahr 1997 beschloss sie, ins Altersheim zu ziehen. Vom ersten Tag an liebte sie ihr neues Zuhause. Sie hatte ihr Spinnrad, wir versorgten sie mit schwarzer, grauer und weißer Schafswolle von den Feldern und sie vollbrachte Wunder. Wir haben noch einige schöne Kleidungsstücke, die wir immer noch tragen. Ihre Wollpantoffeln mit Ledersohle waren ein Verkaufsschlager. Zusammen mit einigen anderen Bewohnerinnen aus dem Heim fertigte sie Kleidung für Bedürftige an, ebenso wie für das kirchliche Frauenwerk, an dem sie treu teilnahm und das sie förderte.
Das Spinnrad ist ein sehr wertvolles Stück Geschichte, das dafür gesorgt hat, dass ganze Generationen warm gekleidet waren. Es ist eines der wenigen Dinge, die die Familie Leibbrandt seit Russland begleitet und gedient hat. Da die Kälte über Generationen hinweg Wollkleidung verlangte, nahmen sie das Spinnrad bei ihrer Flucht zurück nach Deutschland 1943 mit. Als Kriegsflüchtlinge, die mit dem Nötigsten in einem kleinen Haus in Unterweissach lebten, sorgte es dafür, dass sich ihre Besitzer wieder warm anziehen konnten, und natürlich nahmen sie es 1950 mit nach Chile, wo Augusta noch 60 Jahre lang davon profitierte.
Der Stammbaum der Familie von Neefe und Obischau geht zurück bis in das Jahr 1241. Ihr Leitmotiv hieß «Vigilo et pugno pro vero et bono» (Wache und kämpfe für das Wahre und Gute) – ein Grundprinzip auch in Augustas Leben. Diese Werte hat sie an ihre Kinder und Verwandten weitergegeben, und wir hoffen, dass wir dasselbe für unsere Kinder und Enkelkinder tun können.
Es gibt noch ein weiteres historisches Stück, das Augusta gehört. Es handelt sich um einen vergoldeten Silberbecher aus dem Jahr 1640, den König Friedrich der Große von Preußen ihrem Ururgroßvater, einem Armeegeneral, als Belohnung für einen wichtigen Sieg in einem der Kriege schenkte.
Augusta genießt noch immer unsere Besuche, die Spaziergänge im Garten und die Witze, die wir mit ihr machen. Ihre drei Kinder, sieben Enkel und 16 Urenkel haben das Glück, fast jeden Tag mit ihr verbringen zu können.