Von Südtirol nach Santiago
Zwei Länder in schwierigen Zeiten erlebte Alessandra Finato. Als Tochter von italienischen Eltern wuchs sie in Bozen in Südtirol auf, wo es ab den 1960er Jahren zu Attentaten kam. Mit ihrem chilenischen Mann zog sie vor 35 Jahren in ein Chile, in dem sie eine vorher nie gesehen Armut kennenlernte – und sich voll Elan bis heute in soziale und erzieherische Projekte stürzte.
«Das war schon hart, den Morgen nicht mit einem Café beginnen zu können», lacht Alessandra in Erinnerung an die erste Zeit ihrer Ehe in Santiago 1986. Auch der schöne Kochtopf, den sie so gerne aus Italien mitgenommen hätte, der aber zu schwer war, fehlte ihr.
Dennoch sei es eine bewusste Entscheidung gewesen, die sie und ihr Mann getroffen hätten: «Wir haben uns in Italien kennengelernt. Doch es war uns bald klar, dass wir nach Chile wollten. Es gab für uns im Heimatland meines Mannes vieles zu tun, besonders nach dem Erdbeben von 1985.» Hinzu kommt, dass Alessandra schon als Schülerin ein Faible für südamerikanische Kultur entwickelt hatte: Sie war Mitglied einer Musikgruppe für lateinamerikanische Lieder und Tänze, nahm sogar bei einem Radiosender mit südamerikanischer Musik teil.
Alessandra hat in Bozen eine italienischsprachige Schule besucht. Bis heute ist das Schulsystem Südtirols unterteilt in italienisch- und deutschsprachige Schulen. Das geht zurück auf den Ersten Weltkrieg, als das österreichische Südtirol Italien zugesprochen wurde. Die Bewohner waren verzweifelt, aber die Region wurde durch Benito Mussolini einer strengen «Italienisierung» unterzogen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verzögerte die Regierung die Umsetzung der vertraglich vorgesehenen Autonomierechte für die Region Trentino-Südtirol. Ab 1961 kam es zu Anschlägen, die auch Menschenleben kosteten. Um die angespannte Lage zu beruhigen, wurde die nördlichste Provinz des Landes weiterhin «italienisiert», Arbeitsplätze oder Sozialwohnungen bereitgestellt, die den deutschsprachigen Tirolern vorenthalten waren. «Andererseits fühlten sich die deutschsprachigen Tiroler und Trentiner den Italienern kulturell überlegen und empfanden sie als rückständig und unordentlich», berichtet Alessandra.
Auch ihre Eltern, die aus dem Veneto stammten, zogen nach Bozen. «Sie haben sich von Anfang an in dieser von der Natur verwöhnten Stadt wohlgefühlt. Jedes Wochenende sind sie mit mir und meinen beiden Geschwistern in die Berge zum Kraxeln, Wandern, Skifahren oder um Waldspaziergänge zu machen. So habe ich es auch mit meinen eigenen Kindern in Chile gehalten: In unserer freien Zeit waren wir immer in der Natur unterwegs!» Sie selbst ist vor 60 Jahren in Bozen geboren und fühlt sich auch als Südtirolerin: «Ich bin auf eine der italienischen Schulen gegangen, in der Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wurde.» Sie empfindet das Zusammenleben der unterschiedlich kulturell geprägten Bewohner als Bereicherung, die ihr deutsche Dichter wie Hölderlin oder Schiller, Werte wie Pünktlichkeit und Ordnung nahe brachten. Gleichzeitig habe sie gelernt, dass zum guten Zusammenleben mit Menschen verschiedener Kulturen, Wertschätzung und Toleranz gehörten.
Auch in Chile hat sie eine doppelte Kultur gepflegt: auf der einen Seite die italienische als Lehrerin auf der Scuola Italia in Santiago und auf der anderen Seite die chilenische mit ihrem Mann, Kindern und Freunden, mit denen sie Spanisch spricht. Bis die junge Frau allerdings ihre Arbeit als Lehrerin 1986 in Chile aufnehmen konnte, hatte sie herausfordernde acht Monate zu bestehen: «Nach unserer Hochzeit bin ich sehr bald schwanger geworden. Mein Literaturstudium war aber noch nicht beendet. Also musste ich mit meiner einige Wochen alten Tochter oftmals im Arm an meiner Hochschule, der Universität Mailand, meine Prüfungen absolvieren und meine Abschlussarbeit über Dante verteidigen.» Bis heute ist sie erstaunt, zu was man in der Lage ist, wenn man ein Ziel vor Augen hat. Dieses war für sie, als Lehrerin zu arbeiten und eine große Familie zu gründen. Tatsächlich ist sie bis heute durchgehend in ihrem Beruf tätig gewesen und hat gleichzeitig ihre drei Töchter und ihre zwei Söhne aufgezogen.
Mit der Scuola Italiana in Santiago fühlt sie sich eng verbunden. Alessandra erzählt, dass sie vor 130 Jahren von den italienischen Einwanderern gegründet worden war: «Es wurde ihnen klar, dass ihre Kinder nur den eigenen Dialekt sprechen würden, wenn sie nicht in dem für alle verständlichen „Hochitalienisch“ unterrichtet werden würden.»
Wer glauben sollte, dass die tatkräftige Frau damit ausgefüllt ist, irrt. «Es war mir immer schon wichtig, einen Teil meiner Zeit Menschen zu schenken.» Besonders habe sie dabei Padre Luigi Guissani geprägt. Der italienische Priester hatte 1954 in Mailand die katholische Bewegung Comunione e Liberazione (Gemeinschaft und Befreiung) gegründet, in der sie sich seit ihrer Studentenzeit engagiert und die heute in mehr als 70 Ländern aktiv ist.
Alessandra erklärt, dass der charismatische Seelsorger bereits damals die Krise der Kirche gespürt habe und besonders das Desinteresse der jungen Menschen am Thema Glaube und Kirche. Einmal begegnete der Priester ihr, als sie singend eine Toilette putzte, was zu einer ihrer Aufgaben in der Bewegung gehörte, deren Merkmal ist, dass die Mitarbeit auf Freiwilligkeit beruht. Was er ihr als Studentin damals auf den Weg mitgegeben habe, das habe sie in ihrem Tun immer versucht umzusetzen: Sie solle weiter in dieser Fröhlichkeit dem Leben dienen.