Wie der Chilene Samuel del Campo 1.200 Juden rettete

Vor 80 Jahren wurde der chilenische Konsul Samuel del Campo in Bukarest erstmals mit dem Holocaust konfrontiert. Sein entschiedener Einsatz rettete 1.200 Juden das Leben. Wie es dazu kam, beschreibt Jorge Schindler in seinem Buch «La Diplomacia más allá del deber», das dieses Jahr veröffentlicht wurde.
Ein Brief steht am Anfang der Geschichte dieses Buches: «Der 70-jährige Oli Kotzer aus Israel hatte an die chilenische Botschaft in Tel Aviv geschrieben, um sich zu bedanken, dass Samuel del Campo das Leben seiner Eltern Abraham und Rosa Kiesler gerettete hatte. Die genauen Umstände kannte er aber auch nicht», erzählt Jorge Schindler.
Blütezeit jüdischen Lebens in der Bukowina
Der Botschaftsrat für Europäische Angelegenheiten erkannte schnell die Zusammenhänge. Das Ehepaar gehörte zu den Nachfahren der vielen Juden, die Mitte des
19. Jahrhunderts aus Polen in die Bukowina gekommen waren, eine Region, die bis zum Ersten Weltkrieg zur Habsburgermonarchie gehörte und heute zu Rumänien und der Ukraine. Vor allem die Hauptstadt Czernowitz war eine aufstrebende multinationale Stadt, die kulturell und in wirtschaftlicher Hinsicht stark von den Juden geprägt wurde. Diese machten 1910 rund 30 Prozent der 80.000 Einwohner aus.
Jorge Schindler arbeitet seit 23 Jahren im chilenischen Außenministerium. Auch aufgrund seines Geschichtsstudiums und später durch seine Stelle als Kulturattaché in Berlin hatte er sich mit dem Thema der Judenverfolgung beschäftigt. Daher wusste er, dass um 1860 herum viele polnische Juden in die Bukowina gekommen waren, die von den Habsburger Kaisern unterstützt worden waren und sich daher mit Wien immer besonders verbunden gefühlt hatten. Und es war ihm bald klar, dass der durch Samuel del Campo ausgestellte chilenische Pass Abraham und Rosa Kiesler davor bewahrt hatte, aus Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, in das von rumänischen Soldaten besetzte Transnistrien deportiert zu werden, wo ab 1941 rund 185.000 Juden und Roma an Kälte, Hunger und der Zwangsarbeit starben.

Vertreter der polnischen Botschaft
Nun wollte Jorge Schindler mehr über diesen Mann erfahren, der ebenso wie er als Diplomat tätig war. Sieben Jahre lang recherchierte er so gründlich und minutiös, dass er bald, wie er lächelnd meint, in seinem Ministerium den Spitznamen Oskar erhielt – nach Oskar Schindler, dem Unternehmer, der über 1.000 Juden das Leben rettete.
Als einen zweiten chilenischen Schindler kann man tatsächlich Samuel del Campo bezeichnen. Er wurde 1882 in Linares in der Maule-Region geboren und wuchs in einer wohlhabenden Familie auf. In Paris studierte er Ingenieurwissenschaften und war anschließend ab 1918 bei der chilenischen Botschaft in der französischen Hauptstadt für den Verkauf von Salpeter zuständig. Nachdem er in Belgien und Frankreich als Diplomat tätig gewesen war, wurde er im Mai 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, zum Konsul der chilenischen Botschaft in Rumänien ernannt.
Da die polnische Regierung ins Exil nach London gehen musste, hatte sie die chilenische Botschaft in Rumänien gebeten, sie weiter zu vertreten. So kam es, dass del Campo als Chargé d´affaire, als zweiter Mann in der chilenischen Botschaft, zwischen 1941 und 1943 in Bukarest arbeitete und in dieser Eigenschaft polnische Pässe ausstellte und unterzeichnete. Viele Juden und jüdische Flüchtlinge, die nach dem Einmarsch der Nazis in Polen 1939 nach Rumänien kamen, baten ihn um neue Papiere. Ihnen drohte sonst die Deportation nach Transnistrien, was in den meisten Fällen den sicheren Tod bedeutet hätte. Die Menschen kamen dort in Lager, die von rumänischen Soldaten bewacht wurden. Diktator Ion Antonescu war mit dem NS-Regime verbündet und setzte brutal die Nürnberger Gesetze, die sogenannten «Rassegesetze», um.
Internationale Dimension des Holocaust
Wichtig sind Jorge Schindler die vielen originalen Dokumente in seinem Buch: «Es sind so unglaubliche Dinge in dieser Zeit passiert, dass ich es für nötig hielt, diese Tatsachen zu belegen.» Der Autor betont auch, dass es die Haltung von Samuel del Campo war, dass Juden nicht eine Rasse sind, die seine Handlungen bestimmte. Ganz aufrecht habe er auch an das Außenministerium in Santiago berichtet. Von seinem Vorgesetzten Marcelo Ruiz Solar habe er aber die entgegengesetzte Antwort erhalten, dass Juden als eine Rasse anzusehen seien und keine Pässe erhalten sollten. An diese Anordnung hat sich der tiefreligiöse Mann nicht gehalten, wie Schindler bemerkt. Zu seinem Verständnis von Christentum habe auch die Menschlichkeit gehört.
1943 musste del Campo aus Rumänien in die Türkei fliehen, denn der Gestapo war zu Ohren gekommen, dass er als Judenretter galt. Er erhielt den Auftrag, die chilenische Botschaft in der Schweiz zu übernehmen. Dazu kam es aber nicht, da dem Konsul, die Reise, durch die von den Nazis besetzten Gebiete zu gefährlich schien, und er gab seine diplomatische Laufbahn auf. 1960 ist er in Paris gestorben.
Im Jahr 2016 ist der chilenische Diplomat in Yad Vashem in Jerusalem zum «Gerechten unter den Völkern» ernannt worden. Aus Chile ist durch die Gedenkstätte neben del Campo auch Maria Edwards für die Rettung von jüdischen Kindern in Frankreich während der Zeit des Nationalsozialismus mit dem Titel geehrt worden.
Für Jorge Schindler macht das Beispiel von Samuel del Campo deutlich, dass «der Holocaust eine internationale Angelegenheit ist und war». Daher lautet der Titel seines Buches «La Diplomacia más allá del deber», da Diplomaten in vielen Ländern vor der Frage standen, ob sie Juden helfen sollten. Der Bucheinband zeigt eine Zelle des Konzentrationslagers Auschwitz – am Ende ist ein Fenster mit Licht. Ein Licht der Hoffnung war Samuel del Campo für die polnischen Juden in Czernowitz.