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«1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland» – von wegen neu!

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Dieses Jahr wurde das Jubiläum «1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland» gefeiert. Eine Chance zu zeigen, dass das Judentum auch heute ein selbstverständlicher Teil des Alltags- und Kulturleben Deutschlands ist.

Es war bei einem der ersten Spaziergänge in Köln: Im sonst milden Köln war es sehr kalt und meine Gedanken beschäftigten sich mit der Frage, wie warm es wohl in Santiago, meiner Heimatstadt, an diesem Tag wäre. Auf einmal sah ich eine Straßenbahn vorbeifahren, ein hellblau-weißer Wagen mit einem Davidstern in der Mitte und der Aufschrift «Shalömchen», eine Mischung aus dem hebräischem und deutschem Grußwort. Hatte ich das geträumt? Nein, die bunt verzierte Straßenbahn verkündete, dass in diesem Jahr und trotz Pandemievorgaben, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert werde.

Ältestes Judenviertel 

Dazu fanden in ganz Deutschland, aber besonders in Köln viele Events statt. Warum spielt ausgerechnet die Stadt am Rhein eine besondere Rolle? Sie beherbergt bis heute die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen. Diese war der zentrale Punkt, von dem aus sich die ersten Juden im damaligen Römischen Reich niederließen. Eine wenig bekannte Seite der Stadt. Damals schon war sie der Inbegriff für Offenheit und Multikulturalität. 

Wie kam es dazu? Vor etwa 1.700 Jahren erhielt der römische Kaiser Konstantin ausgerechnet aus Köln die Bitte, ein Gesetz zu erlassen, das auch Menschen jüdischen Glaubens erlaubte, sich hier niederzulassen und ebenfalls in den Rat der Stadt berufen werden zu dürfen. Bald darauf erhielten Juden die Erlaubnis, die dann auch gleich für das gesamte Römische Reich galt. Dieses Dekret ist bis heute das älteste, schriftliche Zeugnis jüdischen Lebens in Deutschland.

Ich nehme diesen Anlass, um die Stadt zu erkunden. Lassen sich noch Spuren aus dieser Zeit finden? Das Projekt «MiQua» gibt darauf eine erstaunliche Antwort. An dieser Stelle soll bald eine neue Museumslandschaft entstehen. Es geht um eine archäologische Sensation, die uns einen weiteren Einblick in das alte römische Köln gewähren soll. Experten fanden vor dem Historischen Rathaus den Eingang zu einer Mikwe, also zu einem jüdischen Ritualbad, das vor etwa 900 Jahre gebaut wurde. Um die Mikwe liegen selbstverständlich auch Reste einer Synagoge und des jüdischen Viertels. 

Es geht nicht nur um die Entdeckung einer Verbindung zwischen Altertum und Mittelalter, sondern auch um einen interessanten Beweis des friedlichen Miteinanders zwischen den Bewohnern und den damals dort lebenden Juden. Von wegen neu in der Stadt! Man muss bedenken, dass so ein Ritualbad tatsächlich ein sehr wichtiger Bestandteil im alltäglichen Leben eines jeden praktizierenden Juden ist, das spätestens vor der Hochzeit von Frauen und Männern bis heute besucht wird. Streng gläubige Juden tauchen sogar noch gegenwärtig ihre Glas- und Metallwaren in die Mikwe vor dem ersten Gebrauch ein. Damit ist mehr als klar, dass die jüdischen Bürger damals nicht verborgen in irgendeiner Ecke lebten, sondern ein ganz normaler Teil des Stadtbilds waren. Man kann sich vorstellen, dass die meisten Kölner wussten, was in der Mikwe geschah. Wenn es Spannungen oder Probleme zwischen ihnen und den Juden gegeben hätte, wäre der Bau einer Mikwe an einer so einer zentralen Stelle nicht möglich gewesen. 

Geschichte der Widersprüche

Leider wissen wir, dass das friedliche Zusammenleben nicht lange dauerte. Spätestens bei den Kreuzzügen und der Pest war es Juden nicht mehr möglich in der Stadt angstfrei zu leben. Schließlich, im Jahr 1424, entschlossen sich viele der Kölner Juden zur Auswanderung in osteuropäische Länder wie Polen oder Litauen. Erst nach der Besetzung des Rheinlands durch das französische Revolutionsheer war es ihnen wieder möglich, sich in Städten wie Köln zu niederlassen. 

Die Gleichstellung wurde dann schließlich mit dem preußischen Judengesetz von 1848 erreicht. Der Rest der Geschichte ist schmerzhaft bekannt. Wie soll dieses Festjahr die Selbstverständlichkeit vom jüdischen Leben in Deutschland ausdrücken? Kein einfaches Vorhaben! Selten findet man etwas, das so voller Widersprüche ist, wie die Geschichte der deutschen Juden: Zeiten der Toleranz und Blüte, Epochen der Diskriminierung und Verfolgung.

Auch heute ist es nötig, dass die Synagogen von der Polizei überwacht werden – vor allem in den größten jüdischen Gemeinden in Berlin, München und Frankfurt, deren Mitgliederzahl seit 1990 durch die Neuansiedlung von jüdischen Bürgern aus Osteuropa und Israel gestiegen ist. Und auf einmal gibt es sogar Straßenbahnen mit jüdischen Symbolen? Die Geschichte der deutschen Juden gleicht manchmal dem Gang eines Krebses.

Der Kölner Dom zum Beispiel wird oft als ein Zeichen interreligiöser Kooperation gefeiert. Denn nicht nur katholische und evangelische Christen waren an der Fertigstellung des kolossalen Bauwerks beteiligt. Ohne die Mitwirkung einer Reihe jüdischer Bürgerinnen und Bürger wäre die Vollendung des Doms nicht möglich gewesen. Man denke dabei etwa an das sogenannte «Oppenheimer Fenster» im Dom, das 1880 von Charlotte Oppenheim mit großem Stolz im
Gedenken an ihren verstorbenen Mann Abraham Oppenheim gestiftet wurde. 

Doch im gleichen Gebäude lassen sich bis heute noch viele Kunstwerke entdecken, die eine sehr diffamierende Sicht auf das Judentum widerspiegeln. So befindet sich auf der Rückseite des berühmten Dreikönigsschrein aus dem 13. Jahrhundert, der die Reliquien der Heiligen Drei Könige enthalten soll, eine ziemlich groteske Darstellung der Geißelung Christi. Auf der für Christen hochsensiblen Szene sieht man keine römischen Soldaten neben Jesus, sondern zwei Männer, die einen tellerförmigen Trichterhut tragen, also eindeutig für diese Zeit als Juden gekennzeichnet sind. Diese lächeln höhnisch und halten jeweils eine Rute in ihrer Hand. Ohne Zweifel wird in diesem Kunstwerk einmal die Vorstellung der Juden als Gottesmörder gezeigt und andererseits das Vorurteil bedient, dass Juden besonders böse Menschen sind. Inzwischen hat die Katholische Kirche damit angefangen, sich mit ihrer Beziehung zum Judentum auseinanderzusetzen und sensibilisiert Besucher in einer Broschüre und durch einen Rundgang für diese Thematik.

Ein weiteres Beispiel ist die Synagogengemeinde an der Roonstraße. Nachdem der Tempel und die weiteren sechs Synagogen während des Novemberpogroms von den Nazis 1938 zerstört oder verwüstet worden waren, setzte sich Konrad Adenauer, der damalige Bürgermeister, persönlich für den Aufbau ein. Nach zweijähriger Bauzeit konnte die Synagoge an der Roonstraße am 20. September 1959 eingeweiht werden. Doch am Heiligabend desselben Jahres wurde das Äußere des Tempels geschändet.

«Wenn du einen Stolperstein siehst…»

Kann man von Selbstverständlichkeit vom jüdischen Leben in Deutschland reden? Bringt so ein Jubiläumsjahr etwas? Das ist eine schwierige Frage. Einerseits soll den Menschen das Judentum und seine Geschichte nähergebracht werden. Andererseits reicht auch oft ein Blick in die Internetforen, um zu merken, dass es immer noch viele gibt, die Juden feindselig gegenüberstehen. 

Ein jüdischer Freund sagte zu mir, bevor ich Chile in Richtung Köln verließ: «Wenn du einen Stolperstein siehst, lies den Namen und sprich ein kleines Gebet und vergiss nie, wo du bist.» Eine andere Freundin hier in Köln antwortete mir auf meine Frage, wie man als Jüdin in Deutschland leben kann: «Wenn die deutschen Juden ihre Sprache und ihre Heimat nicht mehr wollen, dann waren die Antisemiten erfolgreich.» Ich beschließe für mich, aus den beiden Antworten eine Lösung für mich zu basteln. Vielleicht sollte man nicht so lang überlegen und einfach, wie der Kölner Priester Gustav Meinertz handeln. Ohne lange zu überlegen und wie in einem Reflexakt, rettete er eine Tora aus dem Feuer in der brennenden Kölner Synagoge und das trotz der Anwesenheit von SA-Leuten, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt gewesen.

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