Der Bourgeois, der das Bürgertum verachtete
Zu Lebzeiten ein an seiner Zeit verzweifelnder Skandalautor, ist Flaubert heute ein unumstrittener Klassiker der europäischen Literatur.
«Ich empfinde Hass auf die Dummheit meiner Epoche, ganze Fluten von Hass, die mich ersticken.» So urteilte Gustave Flaubert in einem privaten Brief über das Bürgertum, das sich im Frankreich nach der gescheiterten Februarrevolution 1848 als dominante Klasse herausbildete. Für ihn war ein Bürger, «wer niedrig denkt». Dabei gehörte er als Sohn des wohlhabenden und angesehenen Chefchirurgen des Hôtel-Dieu, dem größten Krankenhaus von Rouen, zweifellos zur gehobenen Schicht. Den Großteil seines Lebens verbrachte er in Rouen und dessen Umgebung, nach seinem Tod im Jahre 1880 wurde er in der Stadt begraben. Über die Normandie schimpfte er dennoch, er kenne «nichts Scheußlicheres!»
Auch wenn Flaubert sich seiner Situation nicht entziehen konnte, oder wollte – schließlich war er äußerst privilegiert, finanziell versorgt und verkehrte mit geistigen Größen, wie George Sand und Iwan Turgenjew –, spürte er seiner Zeit, der sich herausbildenden Moderne, so scharf und schonungslos nach, wie kaum jemand. Dafür nutzte er ästhetische Mittel, die in ihrer Innovativität und Radikalität den euro-
päischen Roman prägen sollten.
Dabei verlangte der Schreibprozess dem akribischen Stilisten Flaubert einiges ab. Neben der pessimistischen Einstellung zu seiner Zeit und Gesellschaft, arbeitete er sich an seinen Stoffen jahrelang ab, um dann von der Rezeption enttäuscht zu werden. Seine autobiografisch geprägten «Éducation sentimentale» beispielsweise, sollen als männliche Mentalitätsgeschichte des modernen Bürgers fungieren. Das Thema ist, so der Autor, «Leidenschaft: freilich eine Leidenschaft, wie es sie heutzutage geben kann, das heißt eine untätige».
Der Titel wurde in der 2020 erschienenen deutschen Übersetzung von Elisabeth Edl in «Lehrjahre der Männlichkeit» übertragen in Anlehnung an
Goethes Bildungsroman «Wilhelm Meister» – wobei der Titel ironisch zu verstehen ist: Die Bildung läuft hier ins Leere und Männlichkeit erweist sich als problematisches Konzept. Der epo-chale Roman wurde aufgrund seiner desillusionierenden Pointe von Zeitgenossen aber so schlecht rezipiert, dass der Autor, der sich schon während der fünfjährigen Konzeption mit dem Stoff plagte, seine eigene Fähigkeit infrage stellte.
Wie so oft bei großen Autoren und Autorinnen lässt sich die exzellente Leistungsbilanz Flauberts erst in der retrospektiven Forschung und öffentlichen Neubewertung seines Schaffens ausmachen: Von lediglich drei vollendeten Romanen gelten zwei dem allgemeinen Konsens nach als Klassiker der europäischen Literatur, wenn nicht gar als Wegbereiter des modernen europäischen Romans, nämlich die «Éducation sentimentale» und «Madame Bovary». Gerade zweiterer ist im deutschsprachigen Sprachraum wohl nicht zuletzt wegen seiner skandalträchtigen Veröffentlichungsgeschichte so populär, nach der der Roman aufgrund seiner «Sittenwidrigkeit» eine so starke Empörung auslöste, dass sie sogar einen Gerichtsprozess nach sich zog.
Aber auch die Spätwerke «Drei Geschichten» und der unvollendet gebliebene satirische Roman «Bouvard und Pécuchet», in der viel beachteten Neuübersetzung von Hans-Horst Heschen, laden zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Flauberts Oeuvre und seiner Zeit ein, deren Abgründe und Brüche er seismografisch erfasste und auslotete.
Foto: Gustave Flaubert (von Pierre
François Eugène Giraud, circa 1856)