«An unser wahres allmenschliches Wesen gelangen»
Am 11. November 2021 wäre Fjodor Michailowitsch Dostojewski 200 Jahre alt geworden. Er ist neben Leo Tolstoi wohl der russische Klassiker, der mit seinen großen Romanen das Außenbild von Russland geprägt hat.
Stefan Zweig schrieb in seinem Aufsatz über den russischen Autor, den er als einen der «Drei Meister» der europäischen Literatur, neben Balzac und Dickens, charakterisierte: «Dostojewski ist nichts, wenn nicht von innen erlebt.» Denn, so Zweig: «Je tiefer wir uns in ihn versenken, desto tiefer fühlen wir uns selbst. Nur wenn wir an unser wahres allmenschliches Wesen hinangelangen, sind wir ihm nah.»
Diese Aussage scheint nicht zu dem Ruf Dostojewskis zu passen: Auch als einer der meistgelesenen russischen Autoren gilt sein Oeuvre als schwer zugänglich, nicht zuletzt wegen des Gesamtumfangs sowie jenes der einzelnen Werke und deren thematischer, wie stilistischer Komplexität – die bisweilen als «Stümperhaftigkeit» diffamiert wurde. Das öffentliche Bild des Autors ist geprägt von einer Aura des Rätselhaften bis Düsteren. Eine seiner größten Qualitäten, sein scheinbar grenzenloser Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele, brachte ihn in den Verdacht, mit eben diesen Abgründen seiner Figuren zu sympathisieren. Dabei handelt es sich oft um soziale Außenseiter: Verarmte und Verschuldete, Verrückte, Kranke und Kriminelle.
Allerdings stellt dies nur eine Seite seines Werkes dar, das Stefan Zweig als einzigartig zusammenhängenden Kosmos begriff. Weniger als eine Erforschung des Bösen, auch wenn dieses selten so tief ergründet wurde wie dort, stellt Dostojewskis Schreiben das Ringen um die Grundprobleme des modernen Menschen dar: Glauben und Nihilismus, Recht und Anarchie, Moral und Egozentrismus. Zwischen diesen Polen siedelt der Autor seine Figuren an und lässt sie die Kämpfe seelisch, intellektuell und physisch bis aufs Blut austragen. Dabei verzichtet er auf didaktische Lenkung, sodass den Lesern die schwierige Entscheidung überlassen bleibt, den Sieger zu bestimmen.
Das Extreme der Literatur spiegelt sich dabei in Dostojewskis Biografie. Schon der Beginn seiner literarischen Laufbahn ist beachtlich, doch darauf folgt ein Leben, das selbst an romanhaft anmutenden Wendungen reich ist. Mit nur 24 Jahren steigt Dostojewski mit seinem 1846 erschienen Debutroman «Arme Leute» rasant zum Wunderkind der Sankt Petersburger Literaturszene auf. Der Briefroman über die Liebe eines Schreibers zu einer Näherin, beide mittellos, welche an deren ökonomischen und sozialen Umständen scheitert, wird durch die ebenso schonungslos realistische wie einfühlsame Darstellung beim Publikum und der Kritik ein unmittelbarer Erfolg. Doch bald da- rauf, mit 28 Jahren, wird Dostojewski als Mitglied des zarenfeindlichen Intellektuellenzirkels der Petraschewzen festgenommen und zum Tode verurteilt – allerdings kurz vor der Hinrichtung, buchstäblich auf dem Schafott begnadigt. Stattdessen wird er nach Sibirien verbannt. Nach seiner Rückkehr nach Petersburg im Jahre 1859 aus der zehnjährigen Verbannung knüpft er an seine frühen Erfolge an. Zunächst macht er sich als Verleger und durch die literarische Aufarbeitung seiner Erfahrung in den Strafkolonien, «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus», wieder einen Namen. 1866 wird der Roman publiziert, der seinen Ruhm begründet: «Schuld und Sühne«.
Es sind vor allem die «Fünf großen Romane» Dostojewskis, die zum Kanon der Weltliteratur gezählt werden: Neben «Schuld und Sühne» gehören dazu «Der Idiot», «Die Dämonen», «Der Jüngling» und «Die Brüder Karamasow». An letzterem arbeitete er bis kurz vor seinem Tod 1881. Er gilt als Schlüsselroman, da er die verschiedenen Themen von Dostojewskis Werk – Theologie, Moral, Recht und das, was später als Psychoanalyse bezeichnet werden würde – in einer Kriminal- und Familiengeschichte verknüpft. Auch bei «Schuld und Sühne» handelt es sich um einen Krimi, der allerdings aus Sicht des Verbrechers erzählt wird: Ein junger Student begeht aus philosophischem Größenwahn einen Doppelmord, zerbricht an seiner Schuld und stellt sich letztlich der Polizei. So einfach das Szenario erscheint, so packend wird die Erzählung aufgerollt und alle moralischen wie sozialen und philosophischen Implikationen ausgeleuchtet.
Die Verbindung hochkomplexer thematischer und stilistischer Ausarbeitungen und die Vielstimmigkeit seiner Protagonisten werden bei Dostojewski oft in das verpackt, was man heue als «Genreliteratur» bezeichnen würde – konventionalisierte Gattungen wie Krimi oder Melodram. Sie wurden zumeist als Fortsetzungsromane in Zeitungen publiziert und entfalten so einen erzählerischen Sog, den man mit modernen Fernseh- oder Streaming-Serien vergleichen kann. Diese Mischung aus philosophischen, theologischen und psychologischen Fragen mit einer ebenso mitreißenden wie einzigartigen Sprachkunst macht den Reiz Dostojewskis auch für heutige Leser aus. Das Vorurteil, seine Werke seien schwer zugänglich, wird seinem Schreiben nicht gerecht. Sein Nachruhm, in Russland wie weltweit, spiegelt dabei aber nicht seine Lebensrealität wider. Trotz einzelner Erfolge wurde er ambivalent rezipiert. Ursprünglich wurde er aufgrund seiner realistischen Sozialdramen mit den Sozialisten assoziiert, später für seine religiös und symbolistisch aufgeladenen Texte von ebendiesen als Abtrünniger betrachtet. Er litt an Spielsucht, aufgrund derer er hoch verschuldet war, und an Epilepsie.
In Deutschland erfuhr Dostojewski erst nach dem Ersten Weltkrieg eine besondere Rezeption, die sich so verselbstständigte, dass man mit dem Dostojewski-Biografen Andreas Guski von einem «Deutschen Dostojewski» sprechen kann. Diesen kann man beispielsweise in Debatten um Übersetzungen ausmachen, wie den Skandal um die Umbenennung von «Schuld und Sühne» in «Verbrechen und Strafe» in der Neuübersetzung von Svetlana Geier aus dem Jahre 1994. Während der russische Originaltitel der Übersetzung Geiers entspricht – wie zum Beispiel auch der englische Titel «Crime and Punishment» –, hatte sich das religiös assoziationsgeladene Begriffspaar «Schuld und Sühne» so tief in das deutsche kulturelle Gedächtnis eingebrannt und mit einem historischen, oder nostalgischen, Russlandbild verknüpft, dass die Neuübersetzung des Titels als Affront angesehen wurde – auch wenn sie der Intention des Autors entsprach: Der Roman sollte in erster Linie das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Recht beleuchten, keine metaphysische Abhandlung darstellen.
Zuletzt erschien die deutsche Erstübersetzung der Urfassung von «Der Doppelgänger» von Alexander Nitzberg. Der frühe Roman, den Dostojewski kurz nach «Arme Leute» 1846 publizierte, wurde seinerzeit aufgrund fantastischer Elemente von der Kritik verrissen und ist eines der wenigen Beispiele für einen Text, den der Autor nach der Veröffentlichung überarbeitete. Heutzutage gilt der Roman mit seinem zutiefst neurotischen Protagonisten als Vorgriff auf die moderne Psychologie und wurde in schier unzählbarer Zahl in verschiedenen künstlerischen Formaten adaptiert. Für einen (Wieder-)Einstieg hinein in Dostojewskis Werk fände sich hier einer von zahlreichen Ausgangspunkten.