Gotteshäuser als lebendige Verbindung zur alten Heimat
Der Theologe und Politikwissenschaftler Dr. Daniel Lenski hat eine historische Untersuchung über die deutschsprachigen evangelischen Kirchengemeinden in Chile vorgelegt. Für die ersten Einwanderer und nachfolgende Generationen bedeutete Kirche nicht nur Glauben, sondern auch immer Bewahrung deutscher Kultur und Identität.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dieses hing im Januar 1948 dort, wo man es nicht vermutet hätte: Statt einer christlichen Darstellung schmückte die Wand des Pfarrhauses der deutschsprachigen Kirchengemeinde Osorno ein Foto von Adolf Hitler, daneben ein kleineres von Hindenburg. Als das herauskam, reagierte das Kirchliche Außenamt in Frankfurt empört und verlangte aus Chile eine Erklärung. Doch weder der dortige Pfarrer Karl Steybe noch sein Landeskirchenleiter Friedrich Karle begriffen, warum drei Jahre nach Kriegsende ein Hitlerbild als anstößig empfunden wurde. Der Bericht darüber sei eine Lüge, durchaus hätten sich christliche Symbole im Pfarrhaus befunden. Und es sei «selbstverständlich gewesen», so Steybe, «dass, wie in jedem chilenischen Haus ein Bild des Präsidenten der Republik hängt, so in jedem deutschen Haus ein Bild, oder Bilder von Repräsentanten des deutschen Reiches hingen».
Der Fall zeigt, wie unterschiedlich die Wahrnehmung des Nationalsozialismus innerhalb und außerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche in Chile damals war. Das sogenannte Dritte Reich hatte den Krieg verloren, Deutschland war von den Alliierten besetzt, im Nürnberger Prozess und zwölf Folgeprozessen wurden Kriegsverbrechen und der Holocaust aufgearbeitet. Doch in den deutschstämmigen Kirchen Chiles schien teilweise die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Entnazifizierungspolitik der deutschen Landeskirchen stieß bei den in Chile tätigen Pfarrern zunächst auf Unverständnis – viele von ihnen waren selbst Mitglied in der NSDAP gewesen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der eigenen Rolle darin setzte erst später dank einer zunehmenden Kritik von außen ein.
So war es kein Geringerer als der damalige Bundespräsident Theodor Heuss, der Steybe auf dessen Deutschlandreise 1951 auf die mangelnde Verarbeitung des Nationalsozialismus in Chile ansprach. Ein Jahr später bemühte sich Friedrich Karle bei seinem Deutschlandaufenthalt dem Bundespräsidenten und weiteren Gesprächspartnern zu versichern, dass die Mehrzahl der Deutschen in Chile zwar
nationalistisch, nicht aber nationalsozialistisch gesinnt seien.
Doch die Beteuerung, sich vom Saulus zum Paulus gewandelt zu haben, griff zunächst nicht. Deutsche Pfarrer, die nach Kriegsende nach Chile gekommen waren, berichteten in den 1950er Jahren von nationalsozialistischen Tendenzen in den Gemeinden. Die Spannungen zum Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) nahmen zu und traten offen zu Tage, als dessen neuer Vorsitzender Martin Niemöller 1950 nach Brasilien und Argentinien auch die Gemeinden in Chile besuchte. Der Gast betonte das Leid, das Deutschland über die Welt gebracht habe und erteilte jeder Deutschtümelei eine Absage. Steybe und Karle konterten, dass das Volkstum in Chile noch immer von großer Bedeutung sei.
Die Kirchen der deutschen Gemeinschaften in Chile waren eben nicht «nur» Orte für Gottesdienst, Taufe, Eheschließung und Beerdigung. Daniel Lenski zeigt in seiner beeindruckenden Studie «Die Kirche unsere Väter» auf, dass die Gotteshäuser auch immer als Bewahrungsinstanz verstanden wurden. Seit der deutschen Einwanderungen ab 1850 und der Gründung der ersten Kirchengemeinden sei es damaligen Mitgliedern nicht ausschließlich um das Evangelium gegangen, sondern auch um die Beibehaltung der Identität im spanischsprachigen Umfeld. Das Motiv war die Sorge davor, deutsche Sprache und Kultur könnten in fortwährender Assimilation verloren gehen.
Als Gegengewicht zum befürchteten Akkulturationsprozess diente schon bald die verklärende Erzählung von der Leistung der Ahnen, so Lenski. Der Gründungsmythos von den ersten Siedlern, die wie Pioniere aus dem widerspenstigen Urwald ein «deutsches Idyll» geschaffen hätten, verlangte von der zweiten und dritten Generation, dieses «Erbe der Väter» zu bewahren. Für sie bedeuteten die neuen Kirchen demnach nicht nur religiöse Versammlungsstätten, sondern «Schutzburgen des Deutschtums», sichtbares Zeichen der Verbindung zur Heimat der Väter.
Eine herausragende Rolle fiel dabei den aus Deutschland entsandten Pfarrern zu. Sie waren Geistliche, oft auch Lehrer der lokalen Schule und lebendige Verbindung zur «alten Heimat». «Die neuen Seelsorger waren wie Boten aus einer Welt, die man vor langer Zeit verlassen oder, im Falle nachfolgender Generationen, noch nie betreten hatte.»
Die Geschichte der deutschen evangelischen Kirche in Chile sei daher in wesentlichen Teilen eine Geschichte der dort tätigen Pfarrer. Daniel Lenski sichtete aber nicht nur Aufzeichnungen und Briefwechsel der Pastoren. Der evangelische Theologe und Politikwissenschaftler lebte zweieinhalb Jahre in Chile und lernte die beiden heutigen lutherischen Kirchen durch Studienaufenthalte, Praktika und persönliche Begegnungen kennen. Stipendien des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Friedrich-Ebert-Stiftung ermöglichten Quellenstudium, Sichtung von Sekundärliteratur sowie Forschungen in Deutschland, Brasilien und den USA. Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München nahm schließlich 2018 die daraus entstandene Promotionsschrift an.
Ein Denkmal deutscher Werte auf fremder Erde»
Ähnlich wie bei den deutschsprachigen Einwandererkirchen in Brasilien und am La Plata beinhaltete auch in Chile der Glaube gleichzeitig ein Bekenntnis zu Sprache und kultureller Tradition. Beflügelt durch die Reichsgründung 1871 verstärkte sich dieser Trend noch. «So baue gutes echtes wahres Deutschtum auch hier in diesem Gotteshaus: Ein Denkmal deutscher Werte auf fremder Erde», erklärte der deutsche Konsul feierlich bei der Grundsteinlegung der Kirche in Valparaíso 1897. Wie auch Schulen und Vereine erfüllte die Kirche eine soziale Funktion: Rekonstruktion der zurückgelassenen Heimat und Betonung der deutschen Identität in der indigenen und iberochilenischen Umwelt.
Skepsis an dieser Art von Selbstverständnis hatte es durchaus gegeben. Pfarrer Johannes Klink in Temuco äußerte sich kritisch zum Nationalsozialismus. Und Pfarrer Victor Otto aus Puerto Montt ging der patriotische Enthusiasmus zu sehr über das kirchliche Engagement hinaus: «Die Leute hängen meist auch mit Überzeugung an ihrer deutschen evangelischen Kirche, aber es ist zumindest zweifelhaft, welches Wort ihnen dabei wichtiger ist, deutsch oder evangelisch.»
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte dann ein kirchlicher Öffnungsprozess ein. Der Rückgang der deutschen Sprache innerhalb der Gemeinden brachte zwangsläufig das Spanische in die Gottesdienste. Pfarrer Heinrich Keller forderte 1950, dass es knapp 100 Jahre nach der Gründung der Kirche Zeit sei, aus dem Stadium eines deutschen Vereins herauszukommen und sich auf die «Kirche» zu besinnen. Nur die Tradition der deutschen Volksgemeinschaft zu konservieren, bedeute Stillstand.
Mehr sogenannte Mischehen – Eheschließung mit Spanischsprachigen –, zunehmende Reisemöglichkeiten und eine globalere Mediennutzung, eine stärkere lutherische Vernetzung im internationalen Kontext unter Landeskirchenleiter Friedrich Karle sowie eine wachsende Betonung der chilenischen Identität in der Politik spielten eine Rolle bei dieser Transformation.
Daniel Lenski widmet sich der Kirchenspaltung 1975 am Ende des Buches zwar nicht mehr explizit. Doch er gibt zu bedenken, dass unter den zahlreichen Faktoren, die zu diesem Schisma führten, auch die unterschiedlichen Vorstellungen von «Deutschtum» eine wichtige Rolle dabei spielten. «Wie bereits in den 1950er Jahren, so unterschied sich die Perspektive der Pfarrer, die das Kriegsende und die Nachkriegszeit in Deutschland verbrachten, von der Perspektive der Chile-Deutschen deutlich.» Die im Nachkriegsdeutschland ausgebildeten Pfarrer betonten demnach den kulturüberschreitenden Verkündigungsauftrag des Evangeliums; für viele Gemeindemitglieder besaß aber offenbar die deutsche Tradition einen hohen Stellenwert. Lenski: «Die Spaltung, die aus diesen unterschiedlichen Verständnissen von Kirche resultierte, dauert bis zur Gegenwart an.»
«Die Kirche unserer Väter»
Deutschtumskonstruktionen in der Chile-Synode und der
Deutschen Evangelischen Kirche in Chile, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1. Auflage, 2021, 413 Seiten gebunden, Preis: 100 Euro. ISBN: 978-3-525-56498-1
Zur Person: Daniel Lenski
Daniel Lenski engagierte sich nach dem Abitur ein Jahr lang als Zivildienstleistender in der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Kapstadt. Er studierte Politikwissenschaften, Evangelische Theologie und Volkswirtschaftslehre in Leipzig, München, Santiago de Chile und an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel. Nach seinem Examen schloss sich das Vikariat in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau an. Zum Spezialvikariat zog es Daniel Lenski in die USA, wo er im Büro des Lutherischen Weltbundes bei den Vereinten Nationen in New York arbeitete. Außerdem war er Referent für Anglikanismus und Weltökumene beim Konfessionskundlichen Institut in Bensheim. Es folgte die Promotion zur Geschichte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile an der Uni München. Seit 2018 ist er Pfarrer der evangelischen Martin-Luther-Gemeinde in Falkenstein im Taunus.
Deutsche Evangelische Kirche in Chile
Mit der deutschen Einwanderung ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in Südchile in Osorno und Puerto Montt 1863 die ersten Deutsch-Evangelischen Gemeinden. Es folgten 1867 Valparaíso, 1886 Santiago und Valdivia, die Seegemeinde mit Hauptsitz in Frutillar (1893), La Unión (1900), Victoria (1902), Los Ángeles (1903), Concepción (1904), Contulmo und Temuco (1907) sowie Ancud (1908).
Die deutschen Landeskirchen unterstützten die Gemeinden beim Kirchenbau und entsandten Pfarrer. Osorno und Puerto Montt erhielten 1865 Alfred Tyßka als ersten Pastor. Die Mehrheit der Gemeinden schloss sich dem Evangelischen Oberkirchenrat der Evangelischen Landeskirche in Preußen an, der sich um die Auslandsdiaspora kümmerte. Victoria, Temuco und Valdivia suchten dagegen Anschluss an das sächsische Landeskonsistorium. Unterstützt wurden die Gemeinden zudem durch andere deutsche Institutionen.
Die damalige Mitgliederzahl der Gemeinden wird auf 20.000 bis 30.000 Personen geschätzt. Im Jahr 1906 wurde mit der Chile-Synode die erste landesweite kirchliche Organisation gegründet. Durch das Bedürfnis nach mehr innerkirchlicher Einheit schlossen sich die Gemeinden 1937 in der DEKiC zusammen: Deutsche Evangelische Kirche in Chile.
Diakonisches Handeln der deutschsprachigen Gemeinden erfolgte auf lokaler Ebene mit der Gründung von Frauenhilfsvereinen sowie des Seemannsheims in Valparaíso. Nach dem Zweiten Weltkrieg rief die DEKiC ein eigenes Hilfskomitee für Deutschland ins Leben. Die Gemeinden schickten Kleidung insbesondere für Kinder sowie Nahrungsmittel – Chile stand mit dem aufgebrachten Spendenvolumen 1947 an dritter Stelle der Spendenländer für Deutschland.
Auf der Synode 1959 benannte sich die DEKiC in Evangelisch-Lutherische Kirche um. Das Attribut «deutsch» fiel weg, weil immer weniger Mitglieder diese Sprache fließend beherrschten und die kirchliche Zugehörigkeit nicht an eine Staatsbürgerschaft gebunden sein sollte. Die lutherische Ausrichtung wiederum ermöglichte den Anschluss an den Lutherischen Weltbund.
Im Jahr 1975 traten die deutschstämmigen Gemeinden Frutillar (Seegemeinde), La Unión, Osorno, Santiago, Temuco und Valdivia aus der Synode aus und gründeten die Lutherische Kirche in Chile (Iglesia Luterana en Chile, ILCH). Später schlossen sich auch die Gemeinden in Valparaíso und Puerto Montt an. Eine Wiedervereinigung hat bisher nicht stattgefunden.