«Menschenmengen, die jubelten, schrien, sangen»
Eine Verwandte wurde durch den Mauerbau von Westdeutschland abgeschnitten – das erfuhr Michael Köbrich in Chile. Die euphorische Stimmung kurz nach dem Mauerfall in Berlin erlebte der ehemalige Sportlehrer persönlich mit einer Schülergruppe der Deutschen Schule Santiago.
Es gibt Erlebnisse, die man nicht vergisst. Es gibt Bilder, die einen immer wieder aufsuchen und ein Leben lang begleiten – das sind für mich die nach dem Mauerfall.
Ich wusste in jungen Jahren schon von Berlin, der Hauptstadt Deutschlands, dann Inselstadt, die nach dem Weltkrieg von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs aufgeteilt wurde. Sie lag isoliert mitten im Osten, mitten in der DDR. Die Tatsachen wusste ich, es fiel mir aber schwer, sie zu verstehen. Leider wurde uns wenig darüber im Geschichtsunterricht vermittelt. Als in den Sechziger Jahren von einer Mauer die Rede war, klang es unverständlich. Wozu eine Mauer? Letztendlich wurde ein unbezwingbarer Betonklotz gebaut, der Ost und West getrennt hat. Menschen und Familien wurden gespalten, ganz abgesehen von der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und Selbsbestimmung. So etwas klang absurd und irrsinnig, so dass ich es einfach nicht verstehen konnte.
Es ging den Machthabern Ostdeutschlands darum, die Bürger aus Ostberlin einzusperren, ihre persönlichen Rechte zu unterdrücken. Mein Vater hatte eine Cousine in Ost-Deutschland, die er nach dem Mauerbau nie mehr treffen konnte. Wie lange hält man so etwas aus? Es enstehen Frust und Aussichtslosigkeit. Es kommt zu Wut und Widerstand und eine Flucht konnte tödlich enden. Trotzdem haben es Tausende versucht. Nach fast 30 Jahren hielten es die Menschen nicht mehr aus. Sie besetzten Straßen und Plätze, um für ihre Würde und Grundrechte zu protestieren – besonders aber für die Ausreisefreiheit. «Wir sind das Volk» war immer stärker und massiver zu hören. Honecker war auch schon weg von der politischen Szene. Der eiserne Vorhang hatte keine Zukunft mehr und alles fing an zu bröckeln. In der chilenischen Presse konnte man von einer «Muro de la Vergüenza» lesen.
Und so kam es, dass wir am 10. November 1989 auch in Santiago von der Nachricht total überrascht wurden, dass alle Grenzübergänge zum Westen geöffnet worden sind und Tausende von Ostberlinern nach Westdeutschland über die Grenzen strömten. Die Schandmauer war gefallen – ohne Gewalt und Terror an diesem Todesstreifen.
Und das Schicksal wollte es, dass ich an Silvester 1990 vor diesem unglaublichen Szenario stand. Erstaunt und fassungslos. Ich kam zum ersten Mal nach Berlin mit einer Austauschgruppe der Deutschen Schule Santiago. Die Stimmung war immer noch einmalig. Wir wohnten in Moabit, nicht weit entfernt von der Grenzmauer, die wir direkt nach der Ankunft aufsuchten. Wir begegneten Menschenmengen, die jubelten, schrien, sangen, sich hin und her bewegten und einfach nur Euphorie zum Ausdruck brachten. Sie standen auf und neben der Mauer und zeigten der Welt, dass es kein Zurück mehr gibt, das sie einfach wegmuss und West und Ost wieder zusammengehören. Mit «Wir sind das Volk» fing es an, «Wir sind ein Volk» war jetzt die Parole.
Die «Mauerspechte» waren zu Hunderten am Werk, um etwas zu ergattern und herauszuhämmern – nicht leicht bei der harten Betonmischung! Das Brandenburger Tor, noch verdeckt im Hintergrund, war stummer Zeuge. Vor Tagen sicherten Panzer diesen Platz. Viele Volkspolizisten, bekannt als Vopos, standen sorglos herum und freuten sich mit all den Anwesenden. Sekt wurde großzügig gespendet und getrunken und jeder stieß mit jedem an. Man traf Unbekannte und plauderte begeistert.
Wir zogen weiter zum Potsdamer Platz, in der Zeit weites Niemandsland, und das Spektakel war dasselbe: Tausende in einer unglaublichen Stimmung! In den
Tagen waren auch schon viele Löcher und Durchbrüche an der Mauer zu sehen. Es gab keine Grenze mehr: Einige Schüler kletterten auch auf die Mauer. Ich fühlte mich als Zeitzeuge, der den Mauerfall mit ansehen konnte. Unser Weg endete am Checkpoint Charlie, am wichtigsten Grenzübergang der Alliierten in Kreuzberg an der Friedrichstraße/Kochstraße. Immer wieder Menschen, die sich umarmten und einfach hofften, dass es anders kommt. Der Alptraum war zu Ende. Unmöglich diese Momente zu vergessen. Berlin haben wir mit Wehmut nach einigen Tagen verlassen.
Willy Brandt, der ehemalige Bürgermeister Berlins und deutsche Bundeskanzler, hätte es nicht treffender sagen können: «Es wächst zusammen, was zusammengehört.» Eine Mauer wird zur Geschichte unserer Zeit!