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«Ein Provokateur»

Lutz Rathenow am Strausberger Platz und vor der Karl-Marx-Allee, in der am 17. Juni 1953 der DDR-Volksaufstand durch die Panzer der Roten Armee gestoppt wurde. Foto: Silvia Kählert

Die Mauer hat Lutz Rathenow inspiriert: Als «Unruhestifter» provozierte der Jenaer Autor die DDR-Regierung. Auch Verhaftungen hielten die Verbreitung seiner politisch-kritischen Texte im Westen nicht auf. Im Osten durfte er nur in Kirchen und privaten Wohnungen auftreten. Nach dem Mauerfall repräse tierte er Deutschland in vielen Ländern der Welt, bei einer Lesereise auch in Argentinien und Uruguay.  Bis Ende April 2021 trug er zehn Jahre lang als Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur bei.

Lutz Rathenow wohnt seit dreißig Jahren in der Mitte Berlins in einem der Eingangshochhäuser der Karl-Marx-Allee am Strausberger Platz. «Diese Straße ist die Einzige aus der DDR, die heute unter Denkmalschutz steht», wie er selbst erläutert. Eigentlich ein Widerspruch in sich selbst: Die DDR-Führung errichtete in den 1950er Jahren für ihre Arbeiter Häuser mit Wohnungen im prunkvollen sowjetischen Zuckerbäckerstil, um die Überlegenheit des Sozialismus zu zeigen – dabei wurde Luxus gleichzeitig als kapitalistisch abgelehnt.

«Irgendwas gegen die DDR tun»

Erzählt der 1952 in Jena geborene Lutz Rathenow von seinem Leben in der DDR-Diktatur, wird schnell klar, dass auch dieses von Widersprüchen begleitet war. «Meine Mutter hat immer wieder damit gehadert, dass wir nicht früh genug in den Westen gegangen sind. Mein Vater aber hat als Direktor der Verkehrsbetriebe in Jena Karriere gemachte.» Was Lutz Rathenow aber im Nachhinein als wichtig für seine Entwicklung erkennt: «Es wurde in unserer Familie immer offen über alles diskutiert und gestritten.» Die Eltern, er und seine Schwester haben auch Westfernsehen geschaut: «Wer das in Jena nicht tat, wurde für verrückt erklärt!» Das Westfernsehen habe außerdem zu einer ganz anderen Sozialisation derjenigen geführt, die es empfangen konnten, während es für Dresdner oder Görlitzer nicht möglich war: «Wir haben auch mitbekommen, dass nicht alles gut war, was im Westen passierte.» 

Nach dem Abitur 1971 wurde er zum Wehrdienst als Grenzsoldat bei der Nationalen Volksarmee eingezogen. Dies habe seine Sicht auf die DDR entscheidend verändert: «Ich fand es ekelhaft auf eigene Staatsbürger bei einer Flucht schießen zu sollen – dort wuchs mein innerer Druck, nach der Armee irgendwas gegen die DDR zu tun. Und Literatur hatte damals eine riesige Extra-Bedeutung.» Aber Rathenow schüttelt auch den Kopf, denn sein Verhältnis zu Westdeutschland hat sich an der Grenze ebenfalls verändert: «Ich konnte als Grenzsoldat Menschen beim Arbeiten auf ihren Feldern beobachten. Sie beachteten den Osten gar nicht. Mein Eindruck war, dass ihnen die Grenze eigentlich egal war.» 

Erste Verhaftung und Exmatrikulation

1973 begann der 21-Jährige mit dem Lehramtsstudium in Germanistik und Geschichte an der Jenaer Universität. Er gründete und leitete den oppositionellen Arbeitskreis «Literatur und Lyrik Jena». Die Beschäftigung mit verbotenen DDR-Autoren oder dem vom DDR-Regime als «elitär» abgelehnten Autor Franz Kafka hatten zur Folge, dass der Literaturkreis 1975 verboten wurde. Als Rathenow mit Freunden gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 protestierte, wurde er verhaftet. Im Jahr darauf erschienen erstmals Prosatexte und Gedichte von ihm in der Schweiz, Österreich und Westdeutschland.

Anfang 1977, drei Monate vor seinem Examen, wurde der Lehramtsstudent zwangsexmatrikuliert, was auch den künftigen Ausschluss von allen Hochschulen in der DDR bedeutete. «Das war eine herbe Enttäuschung», erinnert sich Rathenow zurück. Zugewiesen wurden ihm Stellen als Fahrer und Transportarbeiter beim VEB Carl Zeiss Jena. Erst als seine Frau, die ebenfalls auf Lehramt studiert hatte, nach vielen Schwierigkeiten eine Stelle in Ostberlin erhielt, konnte das Ehepaar gemeinsam umziehen. In Berlin zu leben, sei schon immer sein Wunschtraum gewesen: «Die Anonymität der Großstadt, die kulturellen Möglichkeiten haben mich angezogen.» Und hinzukam die Nähe zur Mauer – und damit zum Westen.

«Ich wollte gar nicht mehr in den Westen»

Er arbeitete als Regieassistent und Inspizient, unter anderem für eine Gastinszenierung mit der chilenischen Theatergruppe «Teatro Lautaro». Als freier Autor schrieb er Bücher, Rundfunkbeiträge und baute nach und nach immer mehr Westkontakte mit Journalisten und Verlagen auf, die seine Texte veröffentlichten. In den Westen zu Lesungen fahren durfte er nie – bis auf eine Ausnahme: Erstmals im Jahr 1989 durfte er in Wien einen Literaturpreis in Empfang nehmen. Doch manchmal verkaufte oder verschenkte er seine in die DDR von Diplomaten oder Journalisten eingeschmuggelten Westbücher an seine Landsleute. 

«Ich wollte gar nicht mehr in den Westen», erklärt Lutz Rathenow. Nur wenn er in der DDR lebte, konnte er authentisch und kritisch über sie schreiben und trotz aller Gefahren auch Netzwerke staatskritischer Geister mit aufbauen.  

Nach der Veröffentlichung seines Buches «Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet» beim Ullstein-Verlag im Jahr 1980 wurde Rathenow erneut verhaftet und in das zentrale Untersuchungsgefängnis der DDR-Staatssicherheit verbracht. Eine breite Öffentlichkeit im Westen, Wolf Biermann und Christa Wolf protestierten dagegen und er wurde zusammen mit dem gleichzeitig verhafteten Autor Frank-Wolf Matthies entlassen. 

15.000 Seiten Stasi-Akten

Der Schriftsteller blieb in der DDR: «Inzwischen war ich im Westen so bekannt, dass mich das schützte.» In seinen eigenen Stasi-Unterlagen fand Lutz Rathenow ein Schreiben des SED-Chefideologen Kurt Hager an den Staatschef Erich Honecker vom 12. Mai 1986: «Wir müssen uns natürlich darüber klar sein, daß Rathenow ein Provokateur ist, der keine Ruhe geben, sondern jeden Anlass nutzen wird, um gegen die DDR und den Sozialismus zu hetzen. Seine jüngste Veröffentlichung in der «Zeit» ist eine wüste Verleumdung unserer Republik und müßte eigentlich entsprechend geahndet werden.» Hager, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED und für die Kultur- und Bildungspolitik der DDR zuständig, wurde daher deutlich, dass es «auf die Dauer nur zwei Möglichkeiten» gab: «…dem Treiben Rathenows keine Beachtung zu schenken oder ihn auszubürgern. Aber Letzteres würde ihm eine weltweite Aufmerksamkeit einbringen, die er auf keinen Fall verdient hat. Ich bin dafür, ihn nicht weiter zu beachten und auf keinen seiner Anträge einzugehen.» Über den Rundfunkkolumnisten, Kinderbuchautor und Essayisten sind rund 15.000 Seiten Stasi-Akten erhalten geblieben.

Nach dem Mauerfall wurde Lutz Rathenow im Jahr 1992 nachträglich von der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität das Abschlussdiplom verliehen. Der Schriftsteller erhielt für sein umfangreiches Werk Literaturpreise, unter anderem den Konrad-Adenauer-Preis der Deutschland Stiftung, aber auch das Bundesverdienstkreuz für sein politisches Wirken.

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