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Der Mauerbau kommt vor dem Mauerfall

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Harald Hauswald und Lutz Rathenow 1986 vor den Fotos aus ihrem Buch «Ost-Berlin»: Trotz ständiger staatlicher Bespitzelung gelang es dem Fotografen und Autoren in mehrwöchiger Arbeit ein Porträt der Stadt einzufangen.

Von Lutz Rathenow

Meine Eltern hatten Ende Juli 1961 den Wohnungsschlüssel einer befreundeten Familie erhalten. Zum Blumen gießen, erklärte mir meine« Mutter. Wir waren zusammen dort und gossen wirklich auch Blumen, aber etwas stimmte nicht an der Art wie Mutti – so nannte ich sie als Neunjähriger – die Wohnung betrachtete. Dann war das kinderlose Ehepaar plötzlich wieder da, der Urlaub viel früher beendet als geplant. Kurz vor dem Mauerbau, der tagelang alle Gespräche beherrschte. Empörung bei der Mutter. «Schimpf nicht so laut», sagte der Vater, der noch nicht Direktor der Städtischen Verkehrsbetriebe geworden war.

Irgendwann erklärte Ursula (zu einer Zeit, in der ich meine Mutter mit ihrem Vornamen ansprach), dass sie damals den Schlüssel bekommen hatten, um die Wohnung auszuräumen. Das befreundete Ehepaar wollte in Westberlin bleiben – auf ein Telegramm hin (Tante ist wieder gesund) sollten meine Eltern vor der Staatssicherheit aktiv werden und sich nehmen, was ihnen gefiel und mögliche belastende Sachen vernichten. Was hatte Onkel Horst und Tante Idi zur Umkehr bewogen? Keine exakte Antwort von Ursula, die ein einziges Mal darüber redete. Es war wohl zu viel Betrieb auf den Ämtern in Westberlin gewesen. Die vielen Flüchtlinge im Aufnahmelager hielten sie davon ab, Flüchtling werden zu wollen, da ging es halt nach Jena zurück.

Die Mauer präsentierte sich drohend und protzig, ihre Errichtung in Ost-Berlin wurde von der DDR geradezu inszeniert. Die Grenze durch Deutschland versteckte sich dagegen, keine Karte sollte sie zu genau aufzeigen, niemand wissen, was wo genau war. An dieser Grenze hatte ich als Soldat zwölf Monate Dienst. Wir schreiben die Jahre 1972/1973, der Ort: eine ziemlich alte Kaserne bei Sonneberg (Thüringen) als Kompaniegebäude. Als einmal der Fahrer einer zivilen Bäckerei leere rote Stiegen für Brot nicht mitnehmen wollte, gegen den ausdrücklichen Befehl eines Politoffiziers (der sich nicht vorstellen konnte, wie ein Mensch das Bedürfnis zu haben vermochte, einmal in den Westen fahren zu wollen), als der Fahrer in seinem Lieferwagen stiegenlos verschwand, da brüllte jener Offizier mich an: «Wozu haben Sie denn eine Waffe, wenn Sie solchen Ungehorsam nicht verhindern können!»

Am 13. August 2021 jährt sich der Jahrestag des Mauerbaus zum 60. Mal. Wenn ich das 1987 nur in München erschienene Ostberlinbuch zweier DDR-Bürger lese (Harald Hauswald, Fotos, Lutz Rathenow, Text), scheint mir die Passage zur Berliner Mauer die merkwürdigste und intensivste des Bandes. Ich könnte das retroperspektiv nicht mehr erfinden: Wut auf eine Ost(Berliner) Identität – und der selbstbewusste Stolz, diese nervöse Wut leben zu dürfen. Eine logische Berliner Überheblichkeit in einer speziellen Ostberliner Mischung, die sich ein wenig zu sehr für den Nabel der DDR hält, um die DDR ganz vertreten zu können. Alles, was in der DDR für mich interessant war, hing irgendwie mit der Mauer zusammen. 

Hier ein Auszug aus dem Buch «Ostberlin», Jaron Verlag (unter anderem Begleitessay Ilko-Sascha Kowalczuk, Vorwort Jan-Josef Liefers), Neuausgabe 2019 – ein Puzzle aus realen Episoden, Zitaten, eine literarische Collage (1.8.2021, Berlin/Dresden):

(1986/87): Die Grenze, egal, wohin ich gehe. Bei früheren Besuchen in Berlin spürte ich ständig die Angst, ein Sperrgebiet zu betreten… Unruhig und zögernd ging ich zu einem Gespräch auf das Gebäude der Schallplattenproduktion zu. Obwohl es in beeindruckender Nähe zum West-Berliner Reichstag schien, kam ich problemlos an. Selbstsicher ging ich Tage darauf zum Haus eines christlichen Verlages. Und wurde vom Wachhabenden zurückgewiesen, Einlass nur mit Sondergenehmigung. Diese halbe Stadt und doch ein neues Ganzes. Was wäre sie ohne den westlichen Anbau! Diesen Resonanzraum, der unserem Teil zum eigenwilligen Klang verhilft. Der den Ehrgeiz anstachelt, etwas Besonderes zu sein.   

«Hat», fragt mein Sohn, vier Jahre, «Dornröschen auch eine Mauer? Ist in Berlin hinter der Mauer ein Schloss? Warum blühen da keine Rosen? Hat die Mauer Dornen? Warum gibt es nicht in jeder Stadt Grenzen? Welche Sprache reden Soldaten?» Immer wieder die Grenze. Ein geheimnisvoller Magnetismus geht von ihr aus. Ein Reiz, unabhängig von politischer oder moralischer Deutung. Politisch verstand ich den Bau der Mauer, moralisch entrüstete ich mich — eigentlich geht beides an dem vorbei, was sie heute bedeutet: die zu Stein verdichtete Form eines gesellschaftlichen Widerspruchs.

Natürlich ist das Ding pervers, aber es zeigt seine Krankheit und verbirgt sie nicht verklemmt. Der Verlust dieses Bauwerks würde das Leben hier ärmer machen. Und wenn nur die Wut darauf abhanden käme. Und nicht nur die ist es. Die Mauer als Motor, der permanent Spannung erzeugt. Sie fordert heraus, zwingt vieles Alltägliche, sich seiner Oberflächlichkeiten zu entschälen, um auf den Kern zu kommen — möge er auch schwer genießbar sein. Dieses Messer der Geschichte, rabiat einen Ort entzweischneidend, der sich zu mehr auswuchs als den Hälften jener vorher existierenden Stadt. Im Moment der Trennung waren beide Teile am Auseinanderfallen, sodass die Mauer sie zusammenfügte. Ein Reißverschluss. Der Kitt von Ganzberlin. Ihr Name als Metapher für etwas, das eine spröde Hoffnung enthält. Abgrenzung wird nur für nötig erachtet, wo sich Dinge zu vermengen drohen. 

Der Tag, an dem die Mauer unbemerkt abgebaut wurde. Die Posten sind abgezogen, Grenzfälle stehen noch — ein Zaun mit Pforten, die jedermann öffnen und durchschreiten könnte. Nur gibt das niemand bekannt. Wie lange dauert es, bis die Menschen ihre neue Möglichkeit begreifen? 

Die Exklusivität einer Wunde, die nicht heilen darf. Schmerz, der Leben entfacht und Würde verleiht. Ein Hauch von Welt ist eine Brise aller Probleme. Es gibt fast alles hier, was es im Westen gibt, nur versteckter oder ganz verborgen. Man könnte skandalöse Details summieren und entlockte dem Leser ein gehöriges Erstaunen. Oder die Bestätigung alter Vorurteile. Doch diese Geschichten werden in einem Ton empörter Zufriedenheit erzählt, der sich beweist, nicht ganz ausgeschlossen von der Welt zu sein. Das Trinkwasser verseucht? Ein Neubau versackt im sumpfigen Boden? In der Klinik darf der Schrank mit den Westmedikamenten erst bei Todesgefahr geöffnet werden? Gefahren regen die Fantasie an. Süchtig nach Negativem löst eine Horroranekdote die nächste ab. Mit heimlichem Vergnügen werden Katastrophen geschlürft. Und wer das Leben mehr liebt als imaginäre Sicherheiten, nimmt das als erfrischende Dusche.

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