«Die Pandemie war für uns eine Chance»
Wie überlebt eine Kirche in Zeiten, in denen der Materialismus das Sagen hat und die Konkurrenz der Fernsehprediger zunehmend Druck auf Gläubige auszuüben scheint? Der Vizepräsident des Gemeinderats der Erlöserkirche pflegt internationale Kontakte und informiert sich laufend, wie eine Kirche mit Zukunft gestaltet werden kann.
Als Kind gehörte er einer anderen Konfession an. Felipe Sepúlvedas Eltern waren regelmäßige Kirchgänger, die engagiert an den Aktivitäten ihrer Gemeinde teilnahmen. «Jene Kirche war für unsere Familie sehr stressig, weil sie das Leben in einen Rahmen zwang», erinnert sich Felipe. «Deshalb habe ich mich mit der Zeit von dieser Gemeinde distanziert.» Seine Vorliebe für geistliche Musik führte ihn zu Konzerten, die in der evangelischen Kirche seiner Heimatstadt Concepción stattfanden. Hier stellte er fest, dass die Lutheraner eine völlig andere Sicht zu Gott und der Welt hatten. Sie kam ihm «freier» vor.
Als im Jahr 2005 Papst Johannes Paul II. zu einem ökumenischen Treffen für Jugendliche nach Deutschland einlud, ergriff Felipe die Gelegenheit und reiste hin: «Ich unternahm eine Pilgerfahrt durch fast ganz Deutschland, und dort fanden viele Zusammenkünfte in evangelischen Kirchen statt», erzählt er und erlebte dabei «eine angenehme, familiäre Atmosphäre».
Als Felipe später sein Studium in Valparaíso aufnahm, kaufte seine Mutter eine Wohnung auf dem Hügel Yungay der Hafenstadt. Sie hatte einen Blick auf die evangelische Kirche, was für den Studenten schicksalshaft sein sollte. Er besuchte gelegentlich den Gottesdienst und als er 2010 nach Santiago zog, kam er eines Tages zufällig an der Erlöserkirche vorbei. Eine Menschenmenge strömte in jenem Moment in das Gotteshaus hinein. Felipe wurde neugierig und schloss sich der Schar an: «Es war ein Konfirmationsgottesdienst mit Pastor Esteban Alfaro, mit allem Drum und Dran. Ich habe diese zwei Stunden sehr genossen und daher bin ich später wieder hingegangen.»
Im Laufe der Zeit fühlte er sich der Erlösergemeinde immer mehr zugehörig. Als der Vorstand verlauten ließ, dass die Internetseite der Kirche verbessert werden müsse, bot er als gelernter Werbefachmann seine Hilfe an. Bei dieser Arbeit lernte er Vorstand und Mitglieder näher kennen: «Hier fand ich, was mir keine andere Kirche gab: ich selbst zu sein, Gott und meinen Nächsten zu lieben und mitzuwirken.»
Im Jahr 2012 trat er dem Gemeinderat bei, der der Verwaltung und Organisation der Kirche übergeordnet ist. Felipes Wunsch als Vorstandsmitglied ist es, «dass alle Welt die Gelegenheit hat, die lutherische Sichtweise und ihre Standpunkte kennenzulernen». Er unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die Erlösergemeinde mit verschiedenen Organisationen anderer Konfessionen einen regen Gedankenaustausch führt: «Wir haben ein gutes Verhältnis mit vielen verschiedenen chilenischen Kirchen». Er möchte auch, dass die evangelische Religion «in Chile immer bekannter wird».
Denn manche Anfragen an ihn als Gemeinderat haben ihn sehr erstaunt: «Es ist schon schockierend, wenn zum Beispiel eine Anfrage kommt, ob man in die lutherische Kirche gehen kann, wenn man nicht blond ist oder wenn man nicht den Zehnten zahlt.» Dazu meinte er: «In der evangelischen Kirche hat man die Gelegenheit, Riesenlasten von Anno Dazumal abzuwerfen und Gott auf eine neue, persönliche, natürliche und intime Weise kennenzulernen.»
Eine interessante Frage, die in den letzten Jahren innerhalb der Kirche oft gestellt wurde, ist, ob es sich lohnt, weiterhin Gottesdienste in deutscher Sprache abzuhalten, wo doch immer weniger Gemeindemitglieder sie beherrschen. Felipe Sepúlveda weist darauf hin, dass er weder Deutsch spricht noch deutscher Abstammung ist. «Dennoch aber bin ich der Meinung, dass die Menschen ein Recht auf ihre Identität haben, demnach haben sie auch ein Recht darauf, ihre Geistigkeit in ihrer Muttersprache zu erleben.» Daher will der Gemeinderat «ganz im Gegenteil, deutschsprachige Andachten fördern», versichert er, «denn in der Pandemie haben wir feststellen können, dass wir über unsere Telekonferenz-Gottesdienste auf Deutsch viele Familien erreicht haben, wie es vor Jahren sicher nicht möglich gewesen wäre.» Er ist davon überzeugt, dass die deutschsprachige Gemeinschaft in Chile weiter bestehen wird: «Und das muss man unterstützen.»
Kürzlich fanden seit längerem aufgrund der Pandemie-Regeln zum ersten Mal wieder in der Erlöserkirche Gottesdienste von Angesicht zu Angesicht statt. Da drängt sich die Frage auf: Wie wird sich nach der Pandemie die Arbeit der evangelischen Kirche gestalten? Felipe Sepúlveda antwortet: «Mit einem Wort: hybrid. Die Pandemie war für uns eine Chance. Wir haben eine virtuelle Kirche aufbauen können.» Die Möglichkeit, dem Gottesdienst persönlich oder per Zoom beiwohnen zu können, soll beibehalten werden. 2020 erhielt die Gemeinde mehr Eintrittsgesuche als im Jahr zuvor. Dies schreibt er der Tatsache zu, dass mehr Menschen durch die neuen Internetangebote angesprochen wurden, als normalerweise eine Kirche aufgesucht hätten.
Er ist davon überzeugt, dass die evangelische Kirche eine Konfession «mit Zukunft» ist, «weil wir uns nicht in das Privatleben der Menschen einmischen. Wir respektieren die Privatsphäre und die Persönlichkeit jedes Einzelnen und können trotzdem in Gemeinschaft leben und zusammen etwas pflegen, was uns wichtig ist.»
Erlöserkirche – eine enge Glaubensgemeinschaft und ein spirituelles Zuhause für ihre Mitglieder
So verschieden wie die Mitglieder einer Gemeinde sind, so unterschiedlich sind auch ihre Sichtweisen. Das ist auch bei den Gemeindemitgliedern der Erlöserkirche nicht anders. Auf die Frage nach wichtigen Erinnerungen oder Ereignissen, die sie mit ihrer Kirche verbinden, kann man unten sehr unterschiedliche Antworten lesen – auch wenn der Glaube alle vereint.