«Ich habe nie im Leben eine schönere Stimme gehört»
Er war einer der größten Tenöre des 20. Jahrhunderts. Wenn von Enrico Caruso die Rede ist, entflammt unter Operfanatikern meist die Diskussion, welcher Nachfolger dem Neapolitaner das Wasser hätte reichen können. Beniamino Gigli? Lauritz Melchior? Jussi Björling? Fritz Wunderlich? Luciano Pavarotti? Oder war Caruso tatsächlich unvergleichbar, wie es bis heute seine Fangemeinde hartnäckig versichert?
E nrico Caruso war auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, als sich die ersten Anzeichen einer Erkrankung bemerkbar machten, die ihm im 48. Lebensjahr das Leben kosten sollte. Während einer Vorstellung des «L’elisir d‘amore» von Gaetano Donizetti in der New Yorker Brooklyn Academy of Music am 11. Dezember 1920 begann der Sänger unversehens Blut zu husten. Die Aufführung musste nach dem ersten Akt abgebrochen werden. Caruso nahm kurz darauf noch an drei Opernabenden in der Metropolitan Opera teil. Nach dem letzten – am 24. Dezember – waren die Schmerzen so intensiv, dass der Hotelarzt ihm Morphium und Kodein verabreichte. Dorothy, seine Frau, zog vier weitere Mediziner zurate, die die endgültige Diagnose stellten: Rippenfellentzündung und Emphysem.
Die Infektion wurde in den folgenden Monaten intensiv behandelt. Caruso musste sich allein sieben Eingriffen unterziehen. Während einer dieser Operationen wurde ihm ein Teil einer Rippe entfernt. Nachdem eine relative Besserung eintrat, reiste er im Mai 1921 nach Neapel zur Erholung. Die Gebrüder Bastianelli, zwei anerkannte Ärzte aus Rom, rieten ihm dringend, sich die linke Niere entnehmen zu lassen.
Caruso war einverstanden und ließ die Reise nach Rom vorbereiten, um die Klinik der Bastianellis aufzusuchen. In jener Nacht verschlechterte sich sein Zustand dermaßen, dass er wieder mit Morphium behandelt werden musste. Am nächsten Vormittag, dem 2. August, starb er im Hotel Vesuvio kurz nach 9 Uhr.
Die Nachricht von Carusos Tod schlug – nicht nur in künstlerischen Kreisen – wie eine Bombe ein. Zur Trauerfeier am 19. August versammelten sich tausende von Schaulustigen auf den Straßen Neapels. Die Gebäude entlang des Leichenzugs waren mit schwarzen Tüchern verhängt, die Geschäfte geschlossen. Mehrere gekrönte Häupter reisten an. König Vittorio Emanuele III. persönlich öffnete die Kirche San Francesco di Paola. Carusos einbalsamierter Leichnam wurde in einem Glassarg aufgebahrt, wo er die nächsten zehn Jahre von seinen Anhängern besichtigt werden konnte. Seine Witwe setzte danach durch, dass der Katafalk in einem Mausoleum verschlossen wurde.
Carusos Leichenbegängnis war das einer Jahrhunderterscheinung. Wie kam es, dass einem Sänger posthum solche Ehrerbietungen zuteilwurden?
Nie wieder Neapel
Enrico Caruso kam aus einer ärmlichen Familie. Als Junge sang er im Kirchenchor, wo seine Stimme dem Pfarrer auffiel. Dieser ermutigte ihn, Gesang zu studieren. Nach ersten Versuchen als Opernsänger in Neapel und in verschiedenen Provinztheatern debütierte er 1898 in Mailand im Teatro Lirico als Loris in Umberto Giordanos «Fedora». Am 26. Dezember 1900 feierte er an der Mailänder Scala als Rodolfo in Giacomo Puccinis «Bohème» unter der Leitung von Arturo Toscanini einen nennenswerten Erfolg.
Bereits zwei Jahre vorher war Caruso als Angehöriger einer Gruppe herausragender italienischer Sänger nach Sankt Petersburg und Moskau getourt, um vor einem erlesenen russischen Publikum – darunter dem Zaren – aufzutreten. Der Neapolitaner konnte sich somit damals schon, als 25-Jähriger, zur Sängerelite seines Landes zählen.
Es folgten Auftritte in Monte Carlo, Warschau und Buenos Aires. Im Februar 1901 nahm er an einem Gedenkkonzert für den kürzlich verstorbenen Giuseppe Verdi teil, das von Arturo Toscanini organisiert wurde und an dem auch Größen wie seine Tenorkollegen Francesco Tamagno (Schöpfer von Verdis Otello) und Giuseppe Borgatti (erster Interpret von Giordanos Andrea Chenier) teilnahmen. Im Dezember des gleichen Jahres gab er im Teatro San Carlo seiner Heimatstadt Neapel als Nemorino in «L’elisir d‘amore» seinen Einstand. Kurz darauf sang er den Des Grieux in Massenets «Manon». Die Reaktion sowohl des Publikums als auch der Kritik waren kühl, weshalb Caruso schwor, «nie wieder nach Neapel zu kommen, um zu singen, sondern nur, um Spaghetti zu essen». Er hielt sich zeitlebens an den Eid.
Der Karrieredurchbruch ereignete sich in New York an der Met, als Caruso den Herzog in Verdis «Rigoletto» sang. Er nahm zusammen mit Marcella Sembrich als Gilda an einer neuen Produktion teil, über die sich am 23. November 1903 zum ersten Mal der Vorhang hob. Kurz darauf unterzeichnete er einen Vertrag mit der Victor Talking Machine Company, der er den Rest seines Lebens verbunden bleiben sollte.
Vor dem Trichter für die Ewigkeit
Er hatte bereits vorher einige Erfahrung mit dem neuen Medium Schallplatte gesammelt, als er in einem Mailänder Hotel für die Gramophone Company vor dem Aufnahmetrichter gestanden hatte. Zwischen 1902 und 1920 entstanden insgesamt 247 Tonträger, die ihn auch außerhalb der Opernwelt zum Star machten.
Sämtliche Aufzeichnungen Carusos stammen aus dem «akustischen» Zeitalter, als Sänger und Instrumentalisten sich vor besagtem Trichter produzieren mussten, der die Schallwellen mechanisch zu einer Nadel übertrug, die die Tonsignale in eine sich drehende Matritze eingravierte. Das Ergebnis ist dementsprechend unbefriedigend. Der Frequenzbereich ist beschränkt, den Glanz einer Stimme kann man nur erahnen, die «S»-Laute sind unhörbar. Es ist mit dem «elektrischen» Verfahren, in dem Mikrofone verwendet wurden und das kurz nach Carusos Tod auf den Markt kam, nicht zu vergleichen. Nichtsdestotrotz vermitteln die alten Platten einen Eindruck von seiner Stimme und seinen Interpretationen.
Das weiche, flexible Timbre strahlte einen überirdisch schönen Klang aus, der von seinen Hörern bewundert wurde. Arturo Toscanini sagte im Jahr 1900, Caruso singe «wie ein Engel». Die Sopranistin Frieda Hempel schrieb 1907: «Der Klang seiner Stimme ist so, als sinke man in einen tiefen, weichen, sanften Sessel aus Samt. Carusos Singen war so perfekt, so himmlisch. Es ist ein Wunder, dass ein Mann solch eine göttliche Stimme besitzt.» Der berühmte Bass Edouard de Reszke schrieb ihm am 16. Juli 1907: «Ich habe nie im Leben eine schönere Stimme gehört… Du singst wie ein Gott.»
Caruso selbst urteilte gegen Ende seiner Laufbahn: «Ein Sänger braucht einen breiten Brustkorb, ein großes Maul, 90 Prozent Gedächtnis, zehn Prozent Intelligenz, harte Arbeit und ein wenig im Herzen.» Das mag alles stimmen, aber eines verschweigt der Sänger, wahrscheinlich aus Bescheidenheit: Die Natur hatte ihn mit einem einmaligen Timbre versehen, das seine Zuhörerschaft zutiefst berührte und zu Begeisterungsstürmen hinreißen konnte.