Verfassunggebende Versammlung

Am 4. Juli tagte erstmals die verfassunggebende Versammlung in Santiago. Sie wählte mit großer Mehrheit die Mapuche, Sprachwissenschaftlerin und Aktivistin Elisa Loncón zur Vorsitzenden und als ihren Stellvertreter den Anwalt und Unabhängigen Jaime Bassa.
Elisa Loncón erhielt bei der konstituierenden Sitzung des Verfassungskonvents im Gebäude des ehemaligen Nationalkongresses in Santiago am Sonntag, 4. Juli, im zweiten Wahldurchgang mit 96 von 155 Stimmen die absolute Mehrheit. Es war eine Mindestanzahl von 78 Stimmen notwendig gewesen. Ebenso wie die neue Vorsitzende steht der zum Stellvertretenden Vorsitzenden gewählte parteilose Kandidat Jaime Bassa für die Politik der linken Oppositionsparteien.
Proteste unterbrechen Sitzung
Unabhängige und linke Oppositionsparteien hatten bei der Wahl zum Verfassungskonvent im Mai überraschend gut abgeschnitten und rund 40 Prozent der Sitze geholt, während die traditionellen Parteien eine Niederlage zugunsten der parteilosen Kandidaten erlitten hatten. Die 155 Delegierten der verfassunggebenden Versammlung waren im Mai unter mehr als 1.300 Kandidaten gewählt worden. Von den 155 Sitzen waren 17 für Vertreter der indigenen Völker Chiles vorgesehen, von denen die neue Vorsitzende Elisa Loncón einen erhielt.
Gleich zu Beginn der Sitzung des Verfassungskonvents am Sonntag kam es zu Tumulten und Protesten. Dazu hatte die «Lista del Pueblo», ein Bündnis von linken Unabhängigen, aufgerufen. Es gab Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, so dass die Delegierten ihre Sitzung unterbrechen mussten.
Freilassung von Gefangenen gefordert
In ihrer ersten Ansprache, die sie auf Mapudungún und auf Spanisch hielt, sagte Elisa Loncón nach ihrer Wahl: «Ich möchte allen dafür danken, dass sie eine Mapuche und eine Frau gewählt haben, um die Geschichte dieses Landes zu verändern.» Sie betonte, dass die neue Verfassung dazu dienen solle, «eine neue Beziehung zwischen den Mapuche, den übrigen Volksgruppen Chiles und allen Einwohnern des Landes» herzustellen. Als ihr Hauptanliegen für die neue Verfassung erklärte sie: «Dieser Kongress, dem ich heute vorsitze, wird Chile in ein plurinationales Chile verwandeln, ein multikulturelles Chile, ein Chile, das die Rechte der Frauen nicht verletzt. In ein Chile, das sich um die Mutter Erde kümmert (…) Das ist unser Traum, wenn wir eine neue Verfassung schreiben.» Außerdem setze sie sich für die «sexuelle Vielfalt» und die Rechte von Kindern ein.
Schließlich stellte sie am Ende ihre Rede fest, dass die «Mapuche unsichtbar gemacht und unterdrückt» worden seien, einige in Gefängnissen seien, aber «heute stolz sein können». Elisa forderte ihre Freilassung und die derjenigen, die bei den sozialen Protesten von 2019 wegen Straftaten verhaftet wurden und die Elisa Loncón als «politische Gefangene» bezeichnete.
Sie kündigte an, dass dies auch Thema der zweiten Sitzung des Kongresses sein werde. In einem Interview nach ihrer Wahl mit der Zeitung La Tercera betonte sie auch: «Es ist möglich, mit uns einen Dialog zu führen, ohne Angst. Dies ist also auch ein Aufruf, uns von unseren Vorurteilen zu befreien und gleichberechtigt miteinander umzugehen.»
Nachdem ihre Wahl verkündet worden war, leitete sie die erste Sitzung des Gremiums weiter, das bis dahin von Carmen Gloria Valladares, der Sekretärin der Wahlbehörde Tricel, geführt worden war. Welches genau die Zuständigkeiten der Vorsitzenden des Verfassungskonvents sein werden, soll in der zweiten Sitzung definiert werden. Elisa Loncón gehört zu den insgesamt 33 Mitgliedern des Konvents, die im Juni ein Manifest unterzeichnet hatten. Dieses rief dazu auf, «die Souveränität des Volkes zu verwirklichen» und sich nicht den Vorschriften unterzuordnen, die im Zusammenhang mit dem Prozess im November 2019 und nach einer Einigung im Senat festgelegt worden waren.
Zu ihrer Ernennung gratulierte unter anderem Präsident Sebastián Piñera bei Twitter: «Herzlichen Glückwunsch an Elisa Loncón zu ihrer Wahl (…). Ich wünsche ihr Weisheit, Besonnenheit und Stärke, um den Konvent zu einer guten Verfassung zu führen, die ihrer Aufgabe gerecht wird und die republikanischen Traditionen und Werte unseres Volkes verwirklicht.»
Zur Person: Forscherin und Aktivistin für Kultur und Sprache der Mapuche
Elisa Loncón Antileo wurde am 23. Januar 1963 in Traiguén in der Araucanía als vierte von sieben Geschwistern geboren und ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sie schloss ihr Studium als Englischlehrerin an der Universidad De La Frontera ab und absolvierte Aufbaustudiengänge am Institut für Sozialstudien in Den Haag in den Niederlanden sowie an der University of Regina in Kanada.
Sie hat einen Master-Abschluss in Linguistik der Universidad Autónoma Metropolitana de México, einen Doktortitel in Geisteswissenschaften der Universität Leiden in den Niederlanden sowie einen in Literatur der Pontificia Universidad Católica, Santiago. Die Linguistin für Englisch und Mapudungún arbeitet an der Universidad de Santiago. Sie forscht im Bereich des Mapudungún zu Themen, die mit der soziokulturellen und sprachlichen Situation der Mapuche zusammenhängen, wie zum Beispiel die Rolle der Frau. Als Co-Autorin schrieb sie die Bücher «Violeta Parra en el Wallmapu. Su encuentro con el canto mapuche« und «Crear nuevas palabras. Innovación y expansión de los recursos lexicales de la lengua mapuche». Sie hat sich von Jugend an in verschiedenen Organisationen als Aktivistin für die Rechte der Mapuche eingesetzt.