Warme Wollschals auch im kalten Deutschland gefragt
Claudia Vigorena stammt aus Punta Arenas. Vor zwölf Jahren zog sie mit ihrem Mann und ihren Kindern nach Essen. Die Deutsch-Chilenin ist Industriedesignerin, hatte in Chile ihr eigenes kleines Goldschmiedeatelier und ist nun in Deutschland zu ihren beruflichen Anfängen der Handarbeit zurückgekehrt.
Claudia Vigorena wurde in der südchilenischen Hafenstadt geboren und ging dort in die Deutsche Schule. In einem Sommercamp der Deutschen Schulen lernte sie ihren Mann kennen, ebenfalls ein Deutsch-Chilene. Der damalige Medizinstudent entschied sich, das praktische Auslandsjahr seiner Fachausbildung in Deutschland zu absolvieren. Sie heirateten und zogen vor zwölf Jahren gemeinsam nach Essen.
Nach Beendigung des Praxisjahres kam das Ehepaar zunächst für sechs Jahre zurück nach Chile, wo drei ihrer inzwischen vier Kinder zur Welt kamen. Doch mit der Zeit zog es sie wieder nach Essen. Das Haus in Chile verkauften sie noch nicht – einen Fuß in der Heimat zu lassen, fühlte sich richtig an.
In Deutschland musste zunächst der Berufstitel ihres Mannes anerkannt werden, bis er schließlich in der Uniklinik Essen als Arzt tätig werden konnte. Claudia Vigorena hingegen lernte währenddessen intensiv Deutsch, kümmerte sich um die Kinder und knüpfte Kontakte. In einem Familienzentrum wurde sie schon bald als Spanischlehrerin für Kleinkinder tätig – gemeinsam mit den eigenen Kindern als kleine Sprachassistenten. Später gab sie Spanischunterricht für Erwachsene im katholischen Bildungsinstitut in Essen und zurzeit unterrichtet sie eine Erwachsenengruppe online.
Außerdem ist die 45-Jährige zu ihren beruflichen Ursprüngen zurückgekehrt. Allerdings arbeitet sie nun nicht mehr mit Edelmetallen, sondern mit Wolle: Sie strickt, häkelt und webt Kleidungsstücke und Stofftiere, die sie über das Internet verkauft (https://cv-creativa.de/portafolio/).
Schon ihre Großmutter und Mutter hatten für den kalten Winter in Punta Arenas für sie und ihre drei Geschwister warme Strümpfe oder Pullover gestrickt. Auch ihr Großvater hatte einen wichtigen Anteil daran: Die Wolle kam aus der Fabrik, wo er als Textiltechniker arbeitete, und über die Zusammensetzung des Garns entschied.
Claudia Vigorena hat daher von klein auf selbst Handarbeit betrieben und es gefällt ihr bis heute, dass dabei immer Unikate entstehen. Ihre Materialien bezieht sie von ökologisch orientierten Unternehmen aus der Umgebung – damit der ökologische Fußabdruck stimmt.
Mehr gemeinsame Familienabende
Der Cóndor wollte von Claudia Vigorena wissen, wie es ihr bei der Umstellung auf den Alltag und die Kultur in Deutschland ergangen ist.
Was hat Sie besonders erstaunt, verwundert oder überrascht?
Essen ist zwar eine Großstadt, aber unser Stadtteil hier ist wie ein Dorf. Alle kennen sich. Als wir nach Deutschland kamen, haben manche Leute – zum Beispiel die Eltern der Klassenkameraden meiner Kinder – uns teilweise nicht gegrüßt, bis sie wussten, dass mein Mann Arzt ist. Das war ungewohnt.
Insgesamt sind die Menschen viel direkter als in Chile, was ich angenehm finde, denn ich bin es auch. Teilweise dauert es zwar länger, dass die Leute auf einen zugehen. Doch wenn sie sich entscheiden, dein Freund zu sein, dann kannst du auf sie zählen.
Was gefällt Ihnen persönlich besonders in Deutschland?
Mir gefällt besonders, dass alle ähnliche Chancen haben, sich zu entwickeln. Hier im Ruhrgebiet sind in den letzten Jahren – so wie andernorts auch – viele Migranten gelandet. Die Kinder werden in eigenen Integrationsklassen unterrichtet, um schnell in die Gesellschaft hineinzuwachsen. In der Schule kommen die Klassenkameraden meiner Kinder aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Sie lernen in der öffentlichen Schule zwei oder drei Fremdsprachen, und zwar so, dass sie sie sprechen können. Das ist fantastisch.
Der Arbeitsalltag ist sehr strukturiert: In Chile kam mein Mann oftmals erst spät abends nach Hause, die Kinder haben ihn nur am Wochenende gesehen. Hier in Deutschland können wir die Abende in der Woche gemeinsam verbringen und am Wochenende die Umgebung erkunden.
Alles ist so nah. Es ist leicht für zwei Tage nach Paris, Prag oder Amsterdam zu reisen, um die umliegenden europäischen Länder kennenzulernen. Wir sind dadurch viel offener für andere Kulturen und Realitäten geworden.
Was mir persönlich zugutekam, war die Chance noch einmal ganz neu anzufangen und neue Verhaltensweisen auszuprobieren zu können. Ich habe gelernt nein zu sagen, wo ich mich vorher in Chile manchmal in den eingespielten gesellschaftlichen Strukturen nicht so frei bewegt habe.
Gibt es etwas, was in Chile ähnlich ist und eventuell die Eingewöhnung erleichtert hat?
Mein deutscher familiärer Hintergrund hat mir die Eingewöhnung erleichtert. Während der ersten Zeit in Deutschland hat meine Mutter, wenn sie aus Chile zu Besuch hier war, den Kindern bei den Hausaufgaben geholfen, als ich selbst noch nicht so gut Deutsch konnte. Meine Großeltern waren beide Deutsche, sodass meine Mutter die deutsche Sprache wirklich gut beherrscht hat. Sie hat sogar überlegt, hierherzuziehen. Doch mein Vater spricht kein Deutsch. So blieb es bei den häufigen Besuchen.
Woran können Sie sich schwer gewöhnen?
Einerseits kann ich mich nicht so richtig daran gewöhnen, dass meine chilenische Familie so weit weg lebt. Das ist das einzige, was schmerzt. Andererseits ist es wunderbar, wenn wir uns dann wiedersehen. Wir erleben die gemeinsame Zeit intensiver, führen tiefere Gespräche und genießen unser Zusammensein bewusster.
Welchen Ratschlag würden Sie Chilenen geben, die nach Deutschland ziehen wollen?
Versuche, deine Gedanken nicht in deinem Land zu lassen. Trauere nicht den alten Zeiten nach, entscheide dich zu 100 Prozent für deine neue Heimat. Integriere dich. Komme vollkommen an, auch wenn es am Anfang schwerfällt.